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Wir sind die Superintelligenz

Manche hoffen auf die Entwicklung einer künstlichen Superintelligenz, die irgendwann alle unsere unbeantworteten Fragen klärt, hadern aber mit der Aussicht, deren Antworten nicht nachvollziehen zu können. Dabei ist etwas ganz Ähnliches schon längst passiert.

In der Literatur gibt es den Topos eines Masterminds, der kraft seines Verstandes eine eigene Welt erschafft, sei es mit Magie wie Shakespeares Prospero in Der Sturm oder mit Hilfe der Technologie wie Jules Vernes Kapitän Nemo – und wie Arthur C. Clarke erklärt hat, ist eine hinreichend fortgeschrittene Technologie ohnehin nicht mehr von Magie unterscheidbar. Dabei ist die Welt der industrialisierten Nationen, die wir bewohnen, inzwischen viel wunderbarer als alle Zauberinseln der Fiktion.

Wir sind die Superintelligenz
Die von Kapitän Nemo konstruierten Maschinen, die sein Tauchboot Nautilus antreiben (Illustration aus Jules Vernes „20.000 Meilen unter dem Meer“)

Würde ein Außerirdischer zu Besuch kommen und fragen, wer sich das alles ausgedacht hätte, könnten wir auf niemanden Bestimmtes zeigen. Unsere Zivilisation ist das Ergebnis einer Arbeitsteilung zwischen Millionen von Menschen, die sich weit überwiegend nicht einmal kennen und nie begegnet sind.

Um ein Haus zu bauen, sind Maurer nötig, aber auch Architekten, Ingenieure und Statiker. Auf Klempner, Heizungsbauer und Elektriker kann man ebenfalls nicht verzichten. Die Grundlagen des Hausbaus mussten Physiker legen, aber auch Chemiker, die zum Beispiel optimale Betonmischungen entwickelt haben. Damit das Haus tatsächlich mit Strom, Wasser und Gas versorgt und das Abwasser abgeleitet wird, ist eine städtische Infrastruktur nötig – irgendjemand muss Kraftwerke gebaut und Grundwasser gefördert und aufbereitet haben. Diese gesamte Maschinerie zu steuern wäre unmöglich, wenn es keine Digitalelektronik gäbe. Halbleiterexperten müssen Chips produziert haben, deren Funktionsprinzip wiederum nicht ohne die physikalischen Grundlagen bis zur Quantenphysik verstanden werden kann. Damit wir von zuhause mit der ganzen Welt kommunizieren können, brauchen wir Satelliten, die ohne Raketenwissenschaftler niemals in ihre Umlaufbahn gelangt wären. Und vergessen wir nicht, dass die Rohstoffe für all das erst mühsam abgebaut werden mussten, wozu beispielsweise ein Physikprofessor kaum in der Lage wäre.

Selbst der intelligenteste und gleichzeitig gebildetste Mensch wäre nicht in der Lage, das nötige Wissen und die Fähigkeiten zu erwerben, um die Grundlagen unserer Zivilisation von Null auf wieder aufzubauen.

Wir sind die Superintelligenz
„Frag den Physiker!“ (2012 auf der documenta 13 in Kassel – leider war gerade kein Physiker anwesend, als ich vorbei kam.)

Wir mögen uns auf irgendeinem Gebiet gut auskennen, würden aber daran scheitern, uns auch nur den Wissensstand einer einzigen Wissenschaft wie etwa der Physik vollständig anzueignen. Das gilt für Spezialisten auf einem Teilgebiet der Physik, die sich mit anderen Teilgebieten nur oberflächlich auskennen, und es gilt auch für theoretische und Experimentalphysiker, deren Berufe nur wenig miteinander zu tun haben. Es hat schon seinen Grund, dass die Existenz des vom theoretischen Physiker Peter Higgs postulierten und nach ihm benannten Teilchens nicht von ihm selbst, sondern von den Experimentalphysikern des CERN nachgewiesen wurde. Es passiert gar nicht so selten, dass von den Autoren eines wissenschaftlichen Fachartikels keiner wirklich alle Aspekte ihrer gemeinsamen Arbeit in der Tiefe durchdrungen hat, und das ist auch gar nicht nötig.

Schrödingers Katze (ebenfalls 2012 auf der documenta 13 in Kassel gesehen)

Wenn in populärwissenschaftlichen Zusammenhängen von der Quantenphysik die Rede ist, geht es meist um spukhafte Fernwirkungen, also eine der Intuition eklatant widersprechende Nichtlokalität, und um gleichzeitig lebendige wie tote Katzen. Der Leser bekommt so den Eindruck, die Quantenmechanik sei ein großes Mysterium und die damit beschäftigten Wissenschaftler hätten hauptsächlich damit zu tun, zu verstehen, was es damit auf sich hätte.

Tatsächlich besteht der Kern der Quantenmechanik aus einer Reihe von Gleichungen, und dass diese Gleichungen die Welt richtig beschreiben, haben Experimentalphysiker so gut bestätigt, dass keine vernünftigen Zweifel bleiben. Wer irgendetwas konstruieren will, das auf quantenmechanischen Phänomenen beruht, braucht nur seine Zahlen in diese Gleichungen einzusetzen und die Lösungen auszurechnen. Um den philosophischen Hintergrund mögen sich die Philosophen kümmern, aber in der Praxis ist er selten relevant.

In der Fotografie müssen wir nicht damit hadern, dass sich Licht mal wie ein Strom von Quanten (den Photonen) und mal wie eine Welle verhält, je nachdem, auf was für eine Frage wir eine Antwort suchen – eine nachweisbare Tatsache, die gleichwohl jeglicher Intuition widerspricht. Es genügt zu wissen, wann der Wellen- und wann der Teilchencharakter des Lichts relevant ist, und wir können dann den jeweils anderen Aspekt ignorieren. Wenn einem der Kopf schmerzt, wann immer man dem einen tieferen Sinn abzugewinnen versucht, sollte man es einfach lassen. Es sei denn, man wollte partout einen Beruf aus solchen philosophischen Überlegungen über die Natur der Wirklichkeit machen.

Tiere wie Menschenaffen, Delfine und Rabenvögel mögen beeindruckende individuelle Intelligenzleistungen zeigen, aber auch wenn sie in sozialen Verbänden leben, können sie ihre Erkenntnisse niemandem mitteilen. Bestenfalls lernen sie durch Nachahmung dessen, was sie bei Artgenossen beobachtet haben. Nur der Mensch ist dank der Sprache in der Lage, alle anderen auf seinen Kenntnisstand zu bringen und mit dieser Hebelwirkung die Fähigkeiten seiner ganzen Gruppe auf eine höhere Ebene zu heben. Und wir können unsere Erkenntnisse so weit vereinfachen, dass die anderen erfahren, was sie wissen müssen, ohne dass sie sich mit den Details auseinanderzusetzen hätten.

Unsere intellektuelle Arbeitsteilung hat uns als Gattung auf das Niveau einer Superintelligenz gebracht, die jedem einzelnen Menschen weit überlegen ist. Die Distanz zwischen der individuellen menschlichen Intelligenz und der Gesamtintelligenz der menschlichen Gemeinschaft ist mindestens so groß wie der Abstand, in dem wir einer künstlichen Superintelligenz gegenüber stünden, über die manche spekulieren. Wenn Letzteres ein ernsthaftes Problem darstellen sollte, dann haben wir offenbar längst gelernt, uns damit zu arrangieren.

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Michael J. Hußmann

Michael J. Hußmann gilt als führender Experte für die Technik von Kameras und Objektiven im deutschsprachigen Raum. Er hat Informatik und Linguistik studiert und für einige Jahre als Wissenschaftler im Bereich der Künstlichen Intelligenz gearbeitet.

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