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Postfaktisch: Jenseits der Wirklichkeit

Postfaktisch: Bildmontagen stellen in der Regel etwas dar, das es so in der sichtbaren Realität nicht gibt. Diese – geringe oder starke – Abweichung kommt überall in der Kunst vor. Solange niemand erwartet, ein solches Bild sei eine wirklichkeitsgetreue Wiedergabe, ist das unproblematisch. Kritisch wird es jedoch, wenn dieses Prinzip in den Alltag oder in die Politik übertragen wird. Dann spricht man, je nachdem, von Lügen oder Postfaktizität. Ein Kommentar von Doc Baumann.

Postfaktizität
Illustration von Doc Baumann auf der Basis eines Fotos von Wiki Commons

Vor ein paar Tagen mailte mir ein Kollege entsetzt, dass er gerade über einen für ihn neuen Begriff gestolpert sei: Postfaktizität. Unter einem anderen Namen ist uns dieser Sachverhalt geläufiger – alltagssprachlich nennt man entsprechende Aussagen schlicht „Lügen“. Werden sie in größerem gesellschaftlichen Zusammenhang verbreitet, in Politik und Wirtschaft, macht sich ein Fremdwort besser.


Postfaktizität = Lüge?


Genau genommen ist Postfaktizität nicht genau dasselbe wie Lügen. Wikipedia zitiert dazu Alard von Kittlitz, der in der „Zeit“ darüber schrieb: „Der Begriff postfaktische Politik bezeichnet ein politisches Denken und Handeln, bei dem evidenzbasierte Fakten nicht mehr im Mittelpunkt stehen. Die Wahrheit einer Aussage tritt hinter den Effekt der Aussage auf die eigene Klientel zurück. In einem demokratischen Diskurs wird – nach dem Ideal der Aufklärung – über die zu ziehenden Schlussfolgerungen aus belegbaren Fakten gestritten. In einem postfaktischen Diskurs wird hingegen gelogen, abgelenkt oder verwässert – ohne dass dies entscheidende Relevanz für das Zielpublikum hätte. Entscheidend für die von postfaktischer Politik angesprochenen Wähler ist, ob die angebotenen Erklärungsmodelle eine Nähe zu deren Gefühlswelt haben.“

Der Vorgang des Lügens als gezielte Irreführung eines Kommunikationspartners setzt implizit voraus, dass dieser an der Wahrheit überhaupt interessiert ist. Ist ihm diese allerdings weitgehend egal und erwartet er nur eine Bestätigung seiner Meinungen, fühlt er sich durch tatsachenwidrige Aussagen nicht betrogen.

Bei Recherchen im Web fand ich das neulich auf einer obskuren Webseite illustriert: „Ich habe aber -> genau von denen [Flüchtlinge] die Schnauze gestrichen gestrichen voll (und das seit mind. 10 -15 Jahren) & … darum ist es mir 100-% willkommen, wenn gegen die ENDLICH WAS läuft – – egal wie … gelogen, echt, fake, ungerecht, was.auch.immer blablablaz“


Postfaktizität im US-Wahlkampf


Die klarste Verdeutlichung dessen, was der Begriff „postfaktisch“ bedeutet, kommt jedoch von einem Menschen, der in wenigen Tagen als Präsident der USA möglicherweise einer der mächtigsten Politiker der Welt sein wird, nämlich von Donald Trump. Selbst wenn er sein Ziel knapp verfehlen sollte, werden ihn Millionen von US-Amerikanern gewählt haben. Trump hat vor seinem TV-Duell mit Hillary Clinton eine historisch wohl einzigartige Forderung gestellt: Er hat sich einen Faktencheck seiner Aussagen verbeten. Mit anderen Worten: Ich werde behaupten, was ich will und was mir nutzt – ob es stimmt, geht euch einen Scheißdreck an!

Der ehemalige Philosophieprofessor Harry Frankfurt meint daher auch, Trump sei keine Lügner im klassischen Sinne, denn bewusst zu lügen, setze die Bedeutung von Wahrheit immerhin voraus. Trump dagegen sei ein Bullshitter – ihm sei es scheißegal, ob seine Aussagen stimmen oder nicht, solange sie die gewünschte Wirkung erzielen.

Äußerst bedenklich ist nicht nur dieser Umgang der Akteure mit der Wahrheit, sondern die Bereitschaft großer Teile der Bevölkerung, ihnen zu folgen, weil ihnen die Kenntnisnahme und Verknüpfung komplexer Fakten zu anstrengend ist. Nun ist Trump sicherlich nicht der einzige Politiker, der lügt. Wir brauchen auch nicht in die Niederungen des US-Wahlkampfs hinabzusteigen, um mehr als genug Beispiele zu finden. Unsere eigenen Politiker liefern uns ausreichendes Material; Tatsachenbehauptungen über Missliebiges werden zunächst einmal dementiert, dann verklausuliert teilweise zugegeben, und im besten Falle ist nach ein paar Tagen Gras über die Sache gewachsen, weil es neue Probleme gibt. Man schaue sich nur die Behauptungen über CETA oder TTIP an. Auch der Brexit wurde mit solchen postfaktischen Aussagen der britischen Bevölkerung gegenüber durchgesetzt.


Ästhetisierung?


Wenn wir eine gute Bildmontage anschauen, ein Kunstwerk betrachten oder einen Roman lesen, dann wissen wir, dass das uns Vorgeführte faktisch zu großen Teilen nicht stimmt (auch, wenn es in eine gemeinsame Erfahrungswelt eingebettet ist, die als unerschütterliche Basis dient). Wir lassen uns mit diesem Vorwissen dennoch bereitwillig auf solche Täuschungen ein. Die Abweichungen zur Wirklichkeit stören uns – in der Regel – nicht, weil Kunst Parallelwelten erbaut, bei denen sich die Künstler mit zugestandenem Recht innerhalb gewisser Grenzen einen Faktencheck verbitten dürfen. (Damit meine ich keine Grenzen der Kunstfreiheit, sondern dass Lösungen nicht durch Wunder herbeigeführt werden dürfen, indem Erfahrungsgesetzmäßigkeiten ignoriert werden.)

Kunst und Politik sind aber nun einmal nicht dasselbe. Walter Benjamin hat in Bezug auf den Faschismus von einer „Ästhetisierung der Politik“ geschrieben, wenn er damit auch nicht dasselbe meinte wie Postfaktizität. Wenn allerdings diese beiden Bereiche des sozialen Lebens ununterscheidbar werden, dann gute Nacht!

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Doc Baumann

Doc Baumann befasst sich vor allem mit Montagen (und ihrer Kritik) sowie mit der Entlarvung von Bildfälschungen, außerdem mit digitalen grafischen und malerischen Arbeitstechniken. Der in den Medien immer wieder als „Photoshop-Papst“ Titulierte widmet sich seit 1984 der digitalen Bildbearbeitung und schreibt seit 1988 darüber.

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