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Bildkritik: Von Vierfüßern und Turmbauern

Heute geht es um Tetra- und Hexapoden (Vier- und Sechsfüßer), und weil die in „Frau im Spiegel“ vorgestellt wurden, hängt Doc Baumann in seiner Bildkritik noch was über Spiegel dran – wobei auch der Begriff „multiperspektivisch“ gleich eine ganz neue Bedeutung annimmt und geradewegs zu der biblischen Geschichte des Turmbaus von Babel führt.

Bildkritik: Von Vierfüßern und Turmbauern
Als Bildausschnitt scheint das Ganze recht harmlos zu sein: Da stehen halt vier Personen dicht beieinander. Na und?
Problematisch würde es allerdings, wenn es nur zwei Frauen wären … (Frau im Spiegel, Heft 31/2021)


Beginnen wir mit der uralten Geschichte vom Turmbau – in diesem Fall nicht in Babel angesiedelt, sondern in Süddeutschland.

„Da fuhr der Herr hernieder, dass er sähe die Stadt München und die Türme aus Lautsprechern, die die Menschenkinder bauten. Und der Herr sprach: Siehe, es ist einerlei Stereoplay-Redaktion und einerlei Sprache unter ihnen allen und dies ist keineswegs der Anfang ihres Tuns, sondern  dergestalt treiben sie’s schon lange. Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe! Und so fügte es sich, dass die Grafiker nicht mehr verstanden, was die Redakteure von ihnen wollten, und die Redakteure konnten die Fragen der Grafiker nicht mehr beantworten, und so türmten sie Lautsprecher auf Lautsprecher und achteten weder der Perspektive noch der Spiegelung. Und siehe, da stürzte am Ende der Turm mit gewaltigem Getöse ein und begrub alles unter sich und die Zeitschriftenmacher wurden über die ganze Erde verstreut und niemand verstand ihre Sprache und ihre Bilder.“

Bildkritik: Von Vierfüßern und Turmbauern
Echte Multiperspektivität: Jeder Lautsprecher hat seinen eigenen Fluchtpunkt, und der exklusive Plattenspieler sowieso.
Wenn das schon nicht stimmt, wäre es ein Stilbruch, wenn wenigstens die Spiegelungen korrekt wären.

Manchmal muss ich in solchen Fällen ja Fluchtlinien und Horizont(e) einzeichnen, um zu verdeutlichen, was bei einer daneben gegangenen Montage nicht stimmt. Hier ist das so offensichtlich, dass es unnötig wäre: Jeder Lautsprecher hat hier seine eigene Perspektive, ebenso der Plattenspieler. (Was irgendwie nachvollziehbar ist – wie soll eine Zeitschrift mit dem Namen „Stereoplay“, die Lautsprecher testet, auch an solche Dinger kommen, um sie als einheitliche Szene zu fotografieren?)

Und dann diese tolle „Spiegelung“! Die der Füße des Plattenspielers bricht nach wenigen Zentimetern ab, die der Lautsprecher reicht bis zum Bildrand; die Unterseite des Gerätes spiegelt sich gar nicht erst. (Ist wohl auch besser so – man stelle sich vor, diese Profi-Monteure hätten mit ihrer fundierten Kenntnis perspektivischer Bedingungen auch noch die Unterseite sich spiegeln lassen, die dann wahrscheinlich so aussähe wie  die Oberseite, nur halt ein wenig verzerrt. Der Peinlichkeit setzt die Krone auf, dass das griechische Wort „stereón (στερεόν)“ sich ausgerechnet auf räumliche Strukturen bezieht.

Dass man solche Machwerke in Billigprospekten von Bau- und Möbelmärkten findet, daran haben wir uns gewöhnen müssen – aber auf dem Cover einer Fachzeitschrift … Und das, wie ein Blick ins Web zeigt, schon seit langer Zeit immer wieder. Das Cover hat uns Joerg zugesandt.

Tetra- und Hexapoden

Wer nun denkt, es ginge nicht mehr schlimmer – weit gefehlt. Über gespiegelte Lautsprechertürme leite ich elegant über zu „Frau im Spiegel“, die Zeitschrift, die uns mit einer der schönsten Montagen der letzten Jahre beglückt. Herzlichen Dank an Daniela Dürbeck, die uns das Bild aus Heft 31/2021 geschickt hat.

Bildkritik: Von Vierfüßern und Turmbauern
Aus „Frau im Spiegel“, Heft 31/2021

Ich weiß zwar weder, wer Frauke Ludowig ist, noch kenne ich ihre Tochter Nele, vermute aber, dass die beiden in Forschungseinrichtungen zur Evolutionsbiologie gern gesehene Gäste sind. In den letzten Jahrzehnten setzt sich ja immer mehr die Erkenntnis durch, dass zwar Darwin recht hatte mit seinen Evolutionsüberlegungen und auch Watson und Crick mit ihrer Entschlüsselung der DNA-Struktur Nobelpreiswürdiges geleistet haben – dass es bei der Vererbung aber jede Menge weiterer Einflussgrößen gibt (ich sage nur: Methylierung) und (Lamarck und Lyssenko würden sich freuen) erworbene Eigenschaften mitunter doch vererbt werden können.

Welche Gene und Methylierungen auch immer hier beteiligt gewesen sein mögen: Das Mutter-Tochter-Paar belegt, dass die evolutionär neue Eigenschaft der Vierfüßigkeit vererbbar ist.

Sicherlich hat diese überraschende Veränderung des Phänotyps viele positive Eigenschaften, was gewiss auch ein Selektionsvorteil ist: etwa deutlich verbesserte Standfestigkeit (vor allem bei Seefahrten nicht zu unterschätzen). Andererseits muss man doppelt so viele Schuhe kaufen und für viel Geld angepasste Hosen schneidern lassen. Das ist ein eher negativer Selektionsfaktor. Dass dieses vom Gewohnten leicht abweichende Erscheinungsbild heute kein Anlass mehr für Diskriminierung ist, belegt der Text zum Bild, „die Tochter mache beim Shooting eine gute Figur“. Irgendwie hat es die Redaktion wohl mit solchen Körperteilen, eine Headline auf der Seite gegenüber lautet „Magie mit süßen Füßen“ (was allein schon als Reim ganz allerliebst ist).

Nun könnte man sagen: Na und, die Evolution schreitet halt fort, und Menschen gehören nun mal zu den Vierfüßern (oder Tetrapoden, wie der Biologe sagt). So gesehen könnte das ein evolutionärer Fortschritt sein. Aber „Tetrapoden“ bezeichnet streng genommen nicht vier Füße, sondern vier Gliedmaßen. Und von denen haben die beiden Frauen, die Arme mitgerechnet, nun mal nicht vier, sondern sechs, und damit gehören sie gar nicht zu den Tetrapoden, sondern zu den Hexapoden, also den Sechsfüßern. Und das wäre nun evolutionär betrachtet vielleicht doch kein Fortschritt, denn damit sind wir bei Insekten, Beintastlern, Doppel- und Springschwänzen.

Copy and Paste ist offensichtlich bei der Bildbearbeitung ein ebenso zentraler – und mitunter fehleranfälliger – Vorgang wie bei der DNA-Replikation und der Zellteilung.

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Doc Baumann

Doc Baumann befasst sich vor allem mit Montagen (und ihrer Kritik) sowie mit der Entlarvung von Bildfälschungen, außerdem mit digitalen grafischen und malerischen Arbeitstechniken. Der in den Medien immer wieder als „Photoshop-Papst“ Titulierte widmet sich seit 1984 der digitalen Bildbearbeitung und schreibt seit 1988 darüber.

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