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Über Fujis „Value Angle“, die Bedeutung des Mittelstürmers und warum Arjen Robben keine Option ist

Doch, doch, es geht schon um Fotografie. Der Fußball gibt aber die anschaulichsten Erklärungen dafür her, warum ein Kamerasystem bestimmte Eckwerte haben sollte, um die erreichbare Abbildungsqualität zu maximieren. Fuji hat jüngst den Begriff des Value Angle eingeführt, um Kamerasysteme zu charakterisieren, aber was ist das überhaupt und was kann uns der Value Angle sagen?

Innerhalb eines Kamerasystems kann man ein Kameragehäuse mit verschiedensten Objektiven nutzen und ein Objektiv mit unterschiedlichen Gehäusen kombinieren. Und damit diese Komponenten austauschbar sind, müssen bestimmte Kennwerte des Systems vorgegeben werden. Das sind vor allem der Anschlussdurchmesser, das Auflagemaß (der Abstand zwischen Bajonett und Sensor), die minimale Schnittweite (der Abstand von Hinterlinse und Sensor) und die Sensordiagonale. Diese Kenngrößen beschränken den Spielraum der Objektiventwickler ebenso wie den der Kameradesigner, und da sie nach der Einführung eines neuen Systems nicht mehr verändert werden können, muss man sie mit einer Perspektive von mehreren Jahrzehnten festlegen, wenn man sich keine erst in der Zukunft denkbaren Weiterentwicklungen verbauen will.

Value Angle
Der Anschlussdurchmesser (mount diameter), das Auflagemaß (flange back), die minimale Schnittweite (back focus) und die Sensordiagonale sind die Kenngrößen eines Kamerasystems. Quelle: Fujifilm

Fujis Konzept des Value Angle (wörtlich übersetzt also ein Wertwinkel) fasst nun die Kenngrößen Anschlussdurchmesser, Sensordiagonale und Auflagemaß zu einer handlichen Zahl zusammen. Die Idee ist, dass ein möglichst großer Winkel generell vorteilhaft ist und den Bau von Objektiven erlaubt, die eine besonders hohe Bildqualität liefern.

Die Formel zur Berechnung des Value Angle lautet

  Value Angle = 2 × arctan ((Anschlussdurchmesser – Sensordiagonale) / (2 × Auflagemaß))

Zur Beruhigung für Mathe-Phobiker: Man muss diese Formel nicht unbedingt kennen, denn der Value Angle lässt sich auch anschaulich darstellen, indem man ihn in einen Querschnitt durch die Kamera einzeichnet: Man zieht zwei Geraden, die jeweils eine Ecke des Sensor und eine Kante des Objektivanschlusses verbinden, und der Winkel, den diese Geraden bilden, ist eben der gesuchte Value Angle.

Wie man den Value Angle konstruiert, indem man in den Querschnitt der Kamera zwei Geraden einzeichnet, die jeweils eine Sensorecke und die Kante des Objektivanschlusses berühren.
Zur Konstruktion des Value Angle zeichnet man zwei Geraden ein, die jeweils eine Ecke des Sensors mit einer Kante des Objektivanschlusses verbinden. Quelle: Fujifilm

Damit der Value Angle nun einen möglichst großen Wert annimmt, muss der Anschlussdurchmesser deutlich größer als die Sensordiagonale und das Auflagemaß möglichst kurz sein. Überlegungen zu den optimalen Kenngrößen eines Kamerasystems sind nun nicht neu. Olympus beispielsweise hatte für die Entwicklung des 2003 eingeführten FourThirds-Systems die Zusammenhänge zwischen Anschlussdurchmesser und Sensordiagonale analysiert und war zu dem Ergebnis gekommen, dass der Objektivanschluss doppelt so groß wie der Sensor sein sollte. Dass das Auflagemaß dabei keine Rolle spielte, ist leicht nachzuvollziehen: FourThirds war ja ein Spiegelreflexsystem, so dass der Abstand zwischen Anschluss und Sensor weitgehend durch den Spiegel bestimmt war, der dazwischen Platz finden musste. Es wäre müßig gewesen, sich über optimale Werte einer Größe Gedanken zu machen, die ohnehin vorgegeben ist.

Anders sieht es beim spiegellosen Micro-FourThirds-System aus, und ebenso bei allen weiteren spiegellosen Kamerasystemen, die diesem folgten. Bei diesen Systemen liegt das Auflagemaß meist zwischen 16 und 20 mm, und müsste nicht noch immer ein mechanischer Schlitzverschluss vor dem Sensor untergebracht werden, könnte man das Auflagemaß auch auf 10 bis 15 mm reduzieren. Aber warum sollte nun der Objektivanschluss deutlich größer als der Sensor und das Auflagemaß möglichst kurz sein? Die auf letztere Frage oft gegebene Antwort ist, dass man dann kleinere Kameras bauen kann, aber in der Praxis geht diese Rechnung nicht so recht auf. Das scharfe Bild entsteht nun einmal in einer bestimmten Entfernung hinter dem Objektiv, und dieser Strahlengang braucht Platz – wenn nicht im Kameragehäuse, dann eben in einem verlängerten Objektivtubus. Von Frontlinse bis Display gemessen wird die Kamera-Objektiv-Kombination auch mit einem kurzen Auflagemaß nicht kleiner.

Der wahre Grund ist in der Optik zu suchen, und damit kommen wir zum Fußball. Als Fotograf wünscht man sich ein Objektiv, das weitgehend frei von Abbildungsfehlern ist, das also alle Lichtstrahlen in jeweils das Sensorpixel lenkt, in dem sie zu einem perfekten Bild beitragen. Ein Fußballspieler hofft, den Ball unhaltbar zwischen Latte, Pfosten und Torwart ins Netz zu zirkeln, und diese Aufgabe ist in vielerlei Hinsicht vergleichbar. Ein Objektiv weist Abbildungsfehler auf, weshalb Lichtstrahlen von ein und demselben Punkt des Motivs in verschiedenen Sensorpixeln landen, und ein verkantetes Objektiv lenkt alles Licht in die falsche Richtung. Der Fußballspieler kann den Ball nur mit einer begrenzten Genauigkeit in die gewünschte Richtung schießen, so dass dieser Latte oder Pfosten oft auf der falschen Seite passiert.

Nehmen wir nun an, ein Spieler zielt auf einen bestimmten Punkt, beispielsweise die rechte obere Ecke des Tors. Der Schuss weicht aber um ein Grad von dieser Richtung ab, und wenn wir uns eine Linie vom Fuß des Spielers bis zum Zielpunkt denken, entfernt sich die tatsächliche Flugbahn des Balls um so weiter von dieser Linie, je weiter er fliegt. Ein hoffnungsvoller Versuch, von der Mittellinie aus ein Tor zu erzielen, könnte das Tor um ein Meter verfehlen, während ein Schuss aus einer Position unmittelbar vor dem Tor trotz der Abweichung in die Kategorie „den muss man machen“ fällt und nur Pechvögeln misslingt. Also: Je kürzer die Distanz zum Tor ist, desto größer ist die Chance, es trotz eines nicht ganz präzisen Schusses zu treffen.

Klar, das weiß jeder, aber Entsprechendes gilt auch für die Lichtstrahlen, die das Objektiv verlassen. Ein kleiner Fehler wirkt sich um so stärker aus, je weiter der Weg ist, den das Licht zum Sensor zurücklegen muss. Ist das Auflagemaß hinreichend kurz, trifft das Licht oft noch das richtige Sensorpixel, obwohl der Lichtstrahl ein wenig von der Ideallinie abweicht. Damit wäre erklärt, weshalb ein kurzes Auflagemaß so erstrebenswert ist.

Für die Chance, ein Tor zu erzielen, spielt auch der Winkel eine Rolle, in dem man auf das Tor schießt. Steht der Spieler mitten vor dem Tor, macht eine geringe Abweichung der Schussrichtung kaum einen Unterschied. Versucht er den Torschuss aber von einem Punkt nahe der Seitenlinie, hat dieselbe Abweichung viel größere Auswirkungen. Man kann es sich auch umgekehrt erklären: Von der Seitenlinie aus erscheint das Tor perspektivisch verkürzt; der Winkel zwischen den beiden Torpfosten ist viel kleiner als aus der Position mitten vor dem Tor, und daher ist es um so schwieriger zu treffen. Die beste Position für einen Torschuss befindet sich in einer möglichst zentralen Position im Strafraum, also dort, wo ein Mittelstürmer stehen sollte, der eine Flanke eines Mitspielers ins Netz lenken kann. Ein direkter Torschuss des Mitspielers wäre weit weniger aussichtsreich, und deshalb sollte man – entgegen dem, was in den letzten Jahren oft behauptet wurde – keineswegs auf einen Mittelstürmer verzichten.

Im Fußball gibt es allerdings Alternativen. Ein typisches Tor von Arjen Robben sieht beispielsweise so aus, dass er sich nahe der Mittellinie den Ball holt, auf der rechten Außenbahn mit hoher Geschwindigkeit die gegnerische Hälfte durchquert, dann in die Mitte zieht und von dort aus auf das Tor schießt. Auf dem Platz sieht das sehr elegant aus, aber in der Optik ist es leider keine Option, denn das Licht kann nicht wie Arjen Robben Haken schlagen, sondern breitet sich in gerader Linie aus. Damit der Einfallswinkel der Lichtstrahlen überall gering ist und die Auswirkung von Abbildungsfehlern unmerklich bleiben, muss jeder Lichtstrahl das Objektiv an einer Position verlassen, die dem zu treffenden Sensorpixel unmittelbar gegenüber liegt. Damit das für alle Pixel garantiert ist, muss die Hinterlinse größer als der Sensor sein, und entsprechend gilt das für den Objektivanschluss, der dieser großen Hinterlinse den nötigen Platz gibt.

Value Angle
Der Verlauf der Lichtstrahlen in Fujis XF 56 mm: Dank der großen Hinterlinse treffen die Lichtstrahlenbündel auch im Randbereich des Sensors noch fast senkrecht auf den Sensor, womit die Auswirkungen von Abbildungsfehlern gering gehalten werden. Quelle: Fujifilm

Damit sind die Kriterien für ein optimales Kamerasystem erklärt: Das Auflagemaß sollte kurz sein, damit das Objektiv das Licht auf kürzestem Wege und mit geringsten Abweichungen beim Sensor abliefert, und der Anschlussdurchmesser sollte deutlich größer als der Sensor sein, um einer großen Hinterlinse (und den Strahlen, die diese verlassen) Platz zu geben. Ein großer Wert des Value Angle zeigt an, dass diese Bedingungen erfüllt sind. Und wie schneiden nun die diversen spiegellosen Systeme in dieser Hinsicht ab?

Value Angle

Obwohl ich für diese Tabelle nach derselben Formel für den Value Angle gerechnet habe, wie sie Fuji verwendet, weichen meine Werte von denen ab, die Fuji selbst präsentiert hat. Der Grund ist der, dass Fuji beim Anschlussdurchmesser mit dem effektiven Durchmesser rechnet, der etwas kleiner als der Innendurchmesser ist. Dieser effektive Durchmesser ist aber nicht bei allen Systemen bekannt; schon der Innendurchmesser, den man etwa bei Wikipedia verzeichnet findet, wird oft nicht von den Herstellern selbst angegeben, sondern musste gemessen werden. Ich habe deshalb mit dem Innendurchmesser gerechnet, womit sich ein etwas größerer Value Angle ergibt. Da es weniger um den Wert selbst als um den Vergleich der Werte für verschiedene Systeme geht, macht das keinen Unterschied.

Es überrascht nun nicht, dass der Value Angle für Fujis eigenes X-System relativ groß ist (48,1 Grad). Er ist aber keineswegs der Größte, sondern wird von Canons System EOS M (55,1 Grad), Leicas T/TL-Modellen (54,5 Grad) und Sonys NEX-Kameras (52,8 Grad) noch übertroffen. Generell findet man die größten Werte bei Kameras mit Sensoren in den Formaten APS-C und Micro-FourThirds. Theoretisch könnte man auch Systeme mit Kleinbild- und Mittelformatsensoren für einen größeren Value Angle konzipieren, aber dazu wären ein sehr großer Anschluss und entsprechend unhandliche Kameragehäuse nötig, die man lieber vermeiden möchte.

Interessant sind die Werte für jene Objektivanschlüsse, bei denen es Kameras und Objektive für zwei Sensorformate, Kleinbild und APS-C gibt, nämlich der L-Mount von Leica, Panasonic und Sigma sowie Sonys E-Mount. Beide erreichen einen großen Value Angle für APS-C, aber nur einen sehr kleinen Wert für Kleinbildkameras. Sie sind also nahezu optimal – aber nur für APS-C; für das Kleinbildformat sind diese Anschlüsse eigentlich zu knapp bemessen. Fujis GFX-Modelle mit Mittelformatsensor verfehlen zwar den hohen Wert des X-Systems desselben Herstellers, schneiden aber besser ab als L- und E-Mount und Hasselblads konkurrierende XCD. Was im Kleinbildbereich erreichbar ist, zeigt insbesondere Nikon, deren Z-System auf einen Value Angle von 40,3 Grad kommt.

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Michael J. Hußmann

Michael J. Hußmann gilt als führender Experte für die Technik von Kameras und Objektiven im deutschsprachigen Raum. Er hat Informatik und Linguistik studiert und für einige Jahre als Wissenschaftler im Bereich der Künstlichen Intelligenz gearbeitet.

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4 Kommentare

    1. Die Berechnung des Value Angle macht eigentlich nur für spiegellose Systeme Sinn (siehe meine Anmerkung zu FourThirds); daher kommen keine Spiegelreflexsysteme in dieser Tabelle vor. Es gab zwar vor sieben Jahren mal eine spiegellose Pentax mit K-Bajonett (die wenig erfolgreiche K-01), aber ich sehe das System insgesamt als Spiegelreflexsystem an. Wie auch immer: Für Kleinbild läge der Value Angle bei 0,9 Grad, für APS-C bei 19,7 Grad.

  1. Vielen Dank für den Artikel! Als nicht Fußball-Fan ist es etwas mühselig der Analogie zu folgen.
    Nach dem „Value Angle“ wäre also Sony E Mount (Vollformat) das ungünstigste Bajonett.
    Genau in diese Richtung argumentiert auch Nikon in seiner aktuellen Werbung.
    Sony hat auf einer Pressekonferenz behauptet, dass sei alles quatsch.
    Gibt es denn irgendwelche konkreten „Beweise“, inwieweit die Hersteller mit besserem „Value Angle“ überlegene Leistungen abliefern?
    Als Sony-Nutzer ist meine Hoffnung, dass der geringe Bajonettdurchmesser, insbesondere bei Objektiven mit Blende 1,4, noch keine messbaren Nachteile produziert. Bei noch lichstärkeren Objektiven (1,2 / 0,95) mag ein größeres Bajonett vielleicht Vorteile bringen. Aber solche Objekte sind dann sehr schwer, haben einen langsamen Autofokus (schwere Linsen die bewegt werden müssen) und sind sehr teuer. Bevor ich in solche Objektive (mit den entsprechenden Nachteilen) investiere, würde ich dann lieber konsequent ins Mittelformat wechseln. Deshalb sehe ich für Sony keinen Nachteil, da die „normalen“ Objektive wie z.B. 35er und 85er mit Anfangsblende 1,4 aus praktischer Sicht bereits das Optimum darstellen.

  2. toll.
    schon wieder muss ich loben.
    ich habe ganz genau verstanden, worum es geht.
    bisher waren mir solche technischen sachen immer egal – ich habe das jeweilige zeugs so verwendet, dass möglichst ordentliche bilder herauskommen.
    aber jetzt sehe ich viele dinge klarer und verstehe, weshalb es manchmal eben doch sinnvoll ist, sich mit technik-zeugs zu befassen.
    dankeschön für das anschauliche erklären – mehr davon!

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