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„Falsche“ Perspektive? – Ein Nachtrag

Vor drei Wochen war Doc Baumann an dieser Stelle auf jene seltsamen Darstellungen von Büchern eingegangen, deren Cover man zugleich unverzerrt von vorn und dennoch den Buchblock von der Seite sieht. Eine Perspektive, die so eigentlich gar nicht geht – meinte er. Gelungen war ihm die Entzerrung nur in mehreren Transformationsschritten in Photoshop. Aber etliche Blog-Leser wussten es besser als er.

„Falsche“ Perspektive? – Ein Nachtrag
„Falsche“ Perspektive? Nicht nur der Einsatz der Fachkamera von Horst Fenchel beweist: Man kann ein Buch mit unverzerrtem Cover aufnehmen und trotzdem den Buchblock sehen.

Mir sei bewusst geworden, hatte ich damals geschrieben, „dass man ein Buch so eigentlich gar nicht darstellen kann. Jedenfalls nicht ohne Montageaufwand. Ich muss gestehen, dass mir nicht so richtig klar ist, ob es vielleicht mit einem Shift-Objektiv aus großer Entfernung klappen würde, was für ein verwertbares Ergebnis aber wohl an der Auflösung scheitern dürfte. Wissen Sie’s? Wenn das mit einer einfachen perspektivischen Entzerrung zu lösen wäre, müsste man es in Photoshop ja auch hinkriegen.“

Von meiner fragenden Aufforderung „Wissen Sie’s?“ fühlten sich erfreulicherweise etliche Leser angesprochen und schickten mir Bildbeispiele, die belegten, dass das durchaus funktioniert. Besonders bedanken möchte ich mich an dieser Stelle bei Horst Fenchel aus Marburg, der zu diesem Zweck nicht nur eine alte analoge Fachkamera wiederbelebte, sondern auch noch extra in die Dunkelkammer ging, um den Film zu entwickeln!

Geht doch!

Die ersten Zweifel meldete Markus Wagner an und schrieb mir: „Mir ist zu dem Artikel aufgefallen, dass die Perspektive an sich nicht unmöglich ist. Womit Sie recht haben ist die Tatsache, dass von Verlagen nicht unbedingt die proportional korrekten Vorlagen benutzt werden. Das Foto an sich, also die Darstellung eines Buches in dieser Perspektive, ist allerdings möglich, wenn ich zur Aufnahme keine Kleinbildkamera verwende, sondern eine Fachkamera, oder irre ich mich da? 

Zur Veranschaulichung verweise ich auf den entsprechenden Punkt aus „Image Circle – Ein Lehr- und Bilderbuch für kreative Fachfotografie“ des Kameraherstellers Linhof.

Leider fehlt mir die Fachkamera, um dieses Setting nachzustellen. Jedenfalls folgere ich daraus, dass hier gar keine Perspektiven kombiniert werden müssten, wenn ich die Aufnahme mit einer Fachkamera mache und nicht mit einer Kleinbild.“

Tags darauf kam eine Mail von Horst Fenchel: „Ja, auch mich stört in den Versandkatalogen (gedruckt oder online), wenn ein dünnes Broschürchen den Anschein eines fetten Wälzers erweckt.

Gut, die Seitenzahl gibt natürlich Aufschluss, aber es wird suggeriert, man bekäme mehr für sein Geld. Die perspektivischen Probleme bei der Mogelpackungs-Darstellung sind für mich als Fotografen natürlich bekannt, zumal ich schon öfters den Auftrag bekam, ein Buch planparallel von oben, aber mit Schrägsicht aufzunehmen.

Mit einer Vollformat SLR und Shiftoptik (wir benutzen Shift-Brennweiten von 17, 24, 35, 45, 90, 100 und 135 mm) bekommt man eine derart seitliche Aufsicht wie in Ihrem Beispiel nicht hin, was erstaunlich scheint. Die Elisabeth-Kirche in Marburg beispielsweise bekommt man mit Weitwinkel-Shift locker ganz ins Bild, obwohl man quasi direkt davor steht und sich den Hals verrenken muss. Mit einer Fachkamera und ihren gewaltigen Verstellmöglichkeiten wäre es sicher machbar, aber die weitaus praktikablere Lösung ist natürlich Photoshop.“

Auf meine harmlose Anfrage – ich hatte überhaupt nicht darüber nachgedacht, was für eine Arbeit das machen würde, da ja auch noch ein Film entwickelt werden musste –, ob er mal ein Foto mit dieser Fachkamera machen könne, kam auch tatsächlich nach ein paar Tagen das Ergebnis:

„Ich habe mal die alte analoge Fachkamera reaktiviert und ebenso das SW-Labor.

Bild 1 zeigt den Aufbau von oben. Die analoge Fach-Kamera ist mit einem Weitwinkel bestückt, man schaut von oben auf die Mattscheibe. Man sieht, dass das Buch ganz am Rand positioniert ist und würde vermuten, dass es eigentlich gar nicht mehr von der Kamera erfasst wird. Durch eine extreme Parallelverschiebung und den großen Bildkreis der Optik ist es aber möglich, das Buch unverzerrt und zugleich mit Seitenansicht aufzunehmen. Es ist also keine ‚unmögliche Perspektive‘.

(Das Vorgehen haben Sie ja in dem von Herrn Wagner erwähnten Artikel korrekt beschrieben: Man könnte auch eine Kleinbildkamera mit Weitwinkel nehmen, das Buch ebenfalls ganz in der Bildecke positionieren und dann später in Photoshop einen Ausschnitt machen. Das Ergebnis wäre ähnlich, nur die Qualität unbefriedigend.)

„Falsche“ Perspektive? – Ein Nachtrag

Bild 2 zeigt das Ergebnis, analog fotografiert auf SW-Film“.

„Falsche“ Perspektive? – Ein Nachtrag
Mit der (analogen) Fachkamera fotografiert, sieht das Buch wie in der Katalogaufnahme aus: Cover unverzerrt, dicker Buchblock inklusive.

Diesen Weitwinkel-Vorschlag setzte ich umgehend in die Tat um, und tatsächlich: Das am Bildrand platzierte Buch wurde bei streng waagerecht gehaltener Kamera abgebildet wie vorausgesagt.

„Falsche“ Perspektive? – Ein Nachtrag
Den Vorschlag von Horst Fenchel mit dem Weitwinkel-Objektiv und dem Buch am Bildrand setzte ich gleich um …
„Falsche“ Perspektive? – Ein Nachtrag
… und in der Tat: Ganz ohne jede nachträgliche Entzerrung erschien das schnell mal aus der Hand fotografierte Buch wie gewünscht.

Eine weitere Zuschrift erreichte mich aus der Schweiz von Peter Brütsch, der schrieb: „Ich habe Ihnen ein Buch fotografiert mit statischer Ansicht und zusätzlicher plastischer Darstellung. Lediglich mit einer Aufnahme ohne Photoshop und doppeltem Boden. Allein mit einem Shiftobjektiv, welches ich um 45° gedreht und dann maximal geshiftet habe. Das bewirkt dieselbe Funktion, wie wenn an einer Fachkamera (die Filmstandarte muss parallel zum Buchdeckel eingestellt sein) die Objektivstandarte seitlich und in der Höhe verschoben wird.“

Peter Brütsch hat diese Aufnahme mit seinem Shift-Objektiv gemacht.

Eine bessere Lösung als meine Photoshop-Entzerrung scheint DXO zu bieten, wie Lutz Mager im Blog-Kommentar anmerkte: „Mit dem Rechteckwerkzeug von DXO geht das mit wenigen Klicks. Man muss bei der Aufnahme nur genügend Luft um das Buch lassen.“ Auch er kam meiner Bitte nach, mal ein Beispielbild zu schicken. „Wie Sie sehen, ist es wirklich nur ein Schnappschuss, den ich ohne jeden Aufwand gemacht habe. Der Schatten sieht aber nur so gerade aus, wenn man vom Buchrücken her beleuchtet. Setzt man die Lampe so, dass der Seitenschnitt beleuchtet wird, gibt es einen unschönen Knick im Schatten. Was die Tiefenerstreckung angeht, – na ja –, das Buch ist 5x so lang wie dick (25cm x 5cm ), also doch schon ein ganz schöner Wälzer. Ich mache noch einen Versuch mit einem dünneren Buch und melde mich später mit einer weiteren Mail.“

Lutz Mager zeigte Doc Baumann an diesem Beispiel, was das Rechteck-Werkzeug in DXO leistet …
… und in der Tat ist das Ergebnis überzeugend.

Die dann auch wenig später mit zwei weiteren Bildern kam: „So, jetzt noch zwei Fotos von einem Buch, welches nur 136 Seiten hat. Wenn man mehr Buchschnitt haben will, muss man eben noch tiefer gehen mit der Kamera, aber auch mit der Lampe, um den Schatten hinter dem Buch noch auf das Foto zu bekommen. Mit einem größerem Abstand zwischen Kamera und Buch kann man ja auch die Tiefenschärfe noch beeinflussen. Die Fotos wurden übrigens nicht weiter bearbeitet, außer entzerrt.“

Und das Ganze noch mal mit einem dünneren Buch …
… das dann dank des Rechteck-Werkzeugs ebenfalls sauber entzerrt wird.

Also haben wir nun alle Varianten beisammen: Fachkamera, Shift-Objektiv, Weitwinkel und Entzerrung in DXO. Zu dieser letzteren Lösung muss ich übrigens noch anmerken: Wenn man das Buch gleich vernünftig fotografiert und nicht so schräg wie ich seinerzeit, klappt die Entzerrung auch in Photoshop per einfacher Transformation oder mit dem perspektivischen Freistellungsrahmen in nur einem Schritt. War mal wieder mein Fehler!

Das in DXO vorgestellte Verfahren klappt in Photoshop ebenso (wenn man, anders als ich, das Buch gleich vernünftig fotografiert). Dabei kommt es aufs Selbe heraus, ob man es frei transformiert oder – in diesem Fall einfacher – mit dem perspektivischen Freistellrahmen bearbeitet.

Aber wie lautet nun die Antwort auf meine Frage, ob diese Vereinigung von unverzerrter Aufsicht und Schrägsicht des Buchblocks perspektivisch möglich ist oder nur ein optischer Trick?

Bei meinem Weitwinkelfoto würde ich wie bei Fachkamera und Shift-Objektiv zunächst sagen: Trick! Das Buch liegt am Rand des Gesichtsfeldes, wenn ich eine Stelle fokussiere, die ein ganzes Stück davon entfernt ist, und dafür ist Perspektive eigentlich nicht so richtig zuständig.

Allerdings kann man auch ganz anders argumentieren, und das hat mich dann bei einer Telefondiskussion überzeugt: Nehmen wir mal Spionagesatelliten. Ich habe keine Ahnung, wie deren Auflösung aussieht, aber gehen wir mal phantasievoll davon aus, was ich vor langer Zeit irgendwo (wahrscheinlich in einem Roman) gelesen habe, man könne damit noch die Schlagzeile in einer Zeitung lesen, die jemand im Central Park in New York liest. (Eine realistischere Einschätzung finden Sie hier ). Aber die derzeit tatsächliche Auflösung ist ja eine technische und keine prinzipielle Frage. Gehen wir also davon aus, man könnte aus der Erdumlaufbahn ein Buch gut erkennbar fotografieren (In der Praxis tut’s bereits eine hohe Leiter oder ein Blick aus dem Fenster im zweiten Stock.)

Mein Argument lautete ja: Sieht man zugleich das Cover eines Buches und den Schnitt der Seiten, dann muss das eine Schrägansicht sein, und also muss die weiter entfernte Kante des Buches kleiner sein als die nähere. Daher wirkt sich die Perspektive aus und eine solche unverzerrte Coveransicht ist nicht möglich. Nehmen wir aber das Foto des Aufklärungssatelliten, ebenfalls in einer leichten Schrägsicht, dann ist der Unterschied zwischen der „weiter entfernten“ Kante und der „näheren“ so minimal, dass er unter perspektivischen Aspekten völlig zu vernachlässigen ist. Wie gesagt, es muss eigentlich nicht mal die Erdumlaufbahn sein, die im zweiten Stock beim Blick aus dem Fenster erreichte Entfernung von der Erdoberfläche reicht praktisch bereits aus.

„Falsche“ Perspektive? Fazit: Ich hatte Unrecht.

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Doc Baumann

Doc Baumann befasst sich vor allem mit Montagen (und ihrer Kritik) sowie mit der Entlarvung von Bildfälschungen, außerdem mit digitalen grafischen und malerischen Arbeitstechniken. Der in den Medien immer wieder als „Photoshop-Papst“ Titulierte widmet sich seit 1984 der digitalen Bildbearbeitung und schreibt seit 1988 darüber.

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3 Kommentare

  1. Das war und ist einer der interessantesten Beitrag in diesem Blog.
    Meine Anmerkung ist, dass ich mein Bedauern, dass es aus den bekannten Gründen keine digitalen Mittel- oder gar Großformatsensoren gibt, sehr groß ist. Der Grund dafür sind, neben den vielfältigen Möglichkeiten des Shiftens, die beim Kleinbildformat limitiert sind, vor allem die kurzen Brennweiten, die man zum Erreichen eines größeren Bildwinkels erforderlich sind. Die Weitwinkelverzerrungen, die spätestens bei 24mm, aber auch schon bei 35mm, Objekte in der Fluchtlinie unmöglich darstellen.
    Ich hatte einige Jahre die Möglichkeit in einem Barockschloss die Prunkräume ausgiebig zu fotografieren. Es gab nicht viele, aber doch ein halbes Album mit Fotos, die in den ersten Jahrzehnten der 1900er-Jahre, vor dem zweiten Weltkrieg, gemacht wurden. Solche Bildwinkel in Innenräumen, Reihen von Stühlen an der Seitenwand, bei denen nicht der erste am Bildrand durch die Weitwinkelverzerrung zu einer Dreierbank gestreckt wird, sind mit Kleinbild nicht möglich.
    Andererseits ist es natürlich auch so, dass man mit modernen Kameras auch Fotos machen kann, die mit großen Fachkameras vermutlich nicht möglich wären, beispielsweise Fotos der gesamten Decke mit 11mm mit der Kamera praktisch auf Bodenniveau, oder Fotos der Räume ausschließlich bei Kerzenlicht unter Nutzung von Belichtungsreihen.

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