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Zusammenge-STOCK-elt: Lost Places

Bildbände zum Thema „Lost Places“ und „Urbex“ scheinen gut zu laufen. So gut, dass ein renommierter Verlag nun eine merkwürdige Lösung gefunden hat, um ein weiteres Buch – „Zauber der Vergänglichkeit“ – mit solchen Fotos zu füllen. Doc Baumann hat es sich für Sie angeschaut.

Zusammenge-STOCK-elt: Lost Places
Schloss Pidhirzi, Lwiw, Ukraine, Lals Stock/Shutterstock

Der Fotograf Michael Kerrigan ist offenbar nicht immer in Bestform, wenn er seine Lost-Places-Fotos aufnimmt. Mal sind sie technisch und kompositorisch hervorragend, mal Mittelmaß, mal einfach schlecht. Hat der Mann weder Qualitätsmaßstäbe noch einen halbwegs erkennbaren eigenen Stil? Und das bei dem Aufwand, den er treibt! Ich habe bisher kaum ein Buch zu diesem Thema gesehen, das Fotos von so vielen unterschiedlichen Orten präsentiert – wirklich einmal quer über den Globus.

Da steht Kerrigan nun schon mal vor einem abgelegenen, mehr oder weniger verfallenen Gebäude, und dann begnügt er sich mit einem fixen Schnappschuss und fährt weiter? Trotz der Mühe von Recherche und Reise beschränkt er sich meist darauf, das Ganze von außen aufzunehmen und versucht augenscheinlich gar nicht erst, ins Innere zu gelangen und dort weiter zu fotografieren.

Und was ist ist seiner Kamerarüstung? Wie manche Bilder belegen, verfügt er über ein Shift-Objektiv. Warum benutzt er das dann nicht immer und mutet uns Abbildungen mit heftig stürzenden Linien zu? Mal sind die Fotos knackscharf und bis in die Tiefen gut durchgezeichnet – mal eher flau und teils dunkler Pixelmatsch.

Schauen wir also mal im Web, was Mr. Kerrigan sonst so fotografiert hat. Leider ist zu diesem Lichtbildkünstler rein gar nichts zu finden – nur zu einem in Schottland lebenden Autor gleichen Namens. Von dem gibt es eine ganze Menge Bücher zu unterschiedlichsten Themen, darunter viele zum Zweiten Weltkrieg.

Der Verlag nennt Kerrigan zwar auf Cover und Titelei als Verfasser, ansonsten ist jedoch im ganzen Buch nichts über ihn zu finden, auch im Impressum taucht er nicht auf. Dafür findet man dort den Hinweis, dass zwei Personen für „Picture Research“ der englischen Originalausgabe zuständig waren. Wieso das? Verfügt der unbekannte Fotograf Kerrigan über einen so gewaltigen Bild-Fundus, dass er da schon selbst nicht mehr durchsteigt und zwei Angestellte sein gewaltiges Archiv sichten mussten?

Je weiter man blättert, um so merkwürdiger kommt einem die ganze Geschichte vor. Schon die Zusammenstellung ist ungewöhnlich – es gibt eine Reihe durchaus noch genutzter Gebäude –, und dass etwa die antike Hadrians-Villa in Tivoli zu  den Lost Places zählen soll, war mir bislang auch nicht bekannt. Viele Urbex-Fotograf/innen lassen in die Bildlegenden schon mal eine persönliche Bemerkung einfließen, was bei der Erkundung dieses oder jenes Gebäudes besonders schwierig oder überraschend war. Kerrigan hält sich da überraschend bescheiden zurück.

Zusammenge-STOCK-elt: Lost Places
Präsidentenpalast in Port au Price, Haiti; beim Erdbeben von 2010 zerstört. Fotograf beim Bildnachweis nicht angegeben

Auf der allerletzten Seite stößt man schließlich auf die Übersicht „Bildnachweis“: Alamy, Dreamstime, Getty Images, Globallookpress, Shutterstock und andere tauchen hier auf, jeweils mit dem Namen der Fotografen und Verweis zur entsprechenden Seite im Buch. Viele, viele Nennungen – nur kein Mr. Kerrigan.

Das also ist des Rätsels Lösung. Kerrigan ist gar nicht, wie Cover und Titelei nahelegen, der Fotograf des Bildbandes, sondern nur der Herausgeber, vielleicht auch der Texter der Bildlegenden (die immerhin sind oft aussagekräftiger als die manch anderer Lost-Places-Bücher). Üblicherweise pflegen Verlage so etwas dazuzuschreiben, entweder als „Herausgeber“, oder „Texte von …“. So ist das Ganze schlichter Etikettenschwindel. Und die Bilder sind samt und sonders Stock-Fotos.

(Das erinnert mich an ein „Buch“ über Marcus Agrippa, das ich mal bei Amazon bestellt – und sofort zurückgeschickt – habe: Das dünne, aber superteure Heftchen mit winziger Schrift stellte sich als kruder Nachdruck einer Handvoll Wikipedia-Artikel heraus, die irgendwas mit dem Thema zu tun hatten. Immerhin sind bei „Zauber der Vergänglichkeit“ Druck- und Papierqualität in Ordnung.)

Damit ist auch klar, warum die Fotos von Stimmung, technischer Perfektion und Komposition her so unterschiedlich aussehen. Manche sind sehenswert, andere bloße, seelenlose Schnappschüsse. (Die Fotografen konnten ja nicht ahnen, in welcher Zusammenstellung ihre Werke dereinst präsentiert werden würden.) Warum ein angesehener Verlag wie Frederking & Thaler so eine Bildersammlung zusammenstockelt und auf den Markt bringt, kann ich mir kaum erklären. Denn zum einen sind bei diesem Verlag hervorragende Lost-Places-Bildbände von Sven Fennema erschienen – man weiß dort also, was Qualität ist. Zum anderen gibt es keinen Grund, für solch einen Mischmach Lizenzgebühren auszugeben – es gibt in Deutschland genug hervorragende, bislang kaum veröffentlichte Lost-Places-Fotograf/innen, die dankbar wären, ihre Werke publizieren zu können.

Michael Kerrigan. Zauber der Vergänglichkeit – Verlassene Villen, Paläste, Hotels und Anwesen, Verlag Frederking & Thaler, 2021. 224 Seiten, Großformat, Hardcover, 130 Farbaufnahmen diverser Fotograf/innen.
29,99 Euro

Zusammenge-STOCK-elt: Lost Places
Cover von „Zauber der Vergänglichkeit“, Foto der Beelitzer Heimstätten, Berlin, von Hristo Uzunov/Shutterstock
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Doc Baumann

Doc Baumann befasst sich vor allem mit Montagen (und ihrer Kritik) sowie mit der Entlarvung von Bildfälschungen, außerdem mit digitalen grafischen und malerischen Arbeitstechniken. Der in den Medien immer wieder als „Photoshop-Papst“ Titulierte widmet sich seit 1984 der digitalen Bildbearbeitung und schreibt seit 1988 darüber.

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