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Mit verbundenen Augen

Mit verbundenen Augen
Mit verbundenen Augen | Doc Baumann

Zum Jahresbeginn 2019 schwappt eine neue Welle des Schwachsinns durch die sozialen Medien: Angeregt durch den Netflix-Film „Bird Box“ beteiligen sich Menschen an gleichnamigen Challenges. Da laufen – vom äußeren Anschein her – Erwachsene mit verbundenen Augen durch die Gegend und dabei erwartungsgemäß gegen Wände und Hindernisse. Andererseits: Man kann’s ja verstehen – auf eine Welt zunehmenden Wahnsinns kann man vielleicht nur noch mit eigenem Irrsinn oder Wahrnehmungsverweigerung reagieren.

Es gab ja schon so einiges: Beim „Ice Bucket Challenge“ etwa übergross man sich vor der Kamera mit eiskaltem Wasser, damals wenigstens zu einem guten Zweck. Beim „Mannequin Challenge“ standen die Leute wie zur Salzsäule erstarrt herum. Beim „Planking“ machten sich die Teilnehmer/innen steif wie ein Brett und ließen sich so in passenden Situationen aufnehmen. Bei „Falling Stars“ musste man auf Fotos wie unglücklich zu Boden gefallen aussehen. Beim neuen „Bird Box Challenge“ muss man das gar nicht mehr simulieren, sondern fällt kurz oder lang mit verbundenen Augen verdientermaßen von ganz allein auf die Fresse.

Angeregt wurde der neue Hype durch den Netflix-Film „Bird Box“ – dort legen sich die Menschen Augenbinden an, weil sie sonst durch den Anblick allgegenwärtiger Dämonen umgehend in den Wahnsinn getrieben würden. Das mal für ein paar Minuten im heimischen Wohnzimmer oder auf freiem Feld auszuprobieren, mag vielleicht ganz lustig sein. (Blinde und stark Sehbehinderte dürfen sich ihr ganzes Leben lang an diesem „Spaß“ erfreuen.) Mit verbundenen Augen durch den Supermarkt zu tappen und dabei Regale umzureißen, eigene Kleinkinder derart verpackt unter debilem Gelächter gegen Schrankwände knallen zu lassen oder sich sogar ans Lenkrad eines fahrenden Autos zu setzen, ist dagegen mehr als grenzwertig.

Mit verbundenen Augen durch die Welt

Andererseits scheint mir dieser Hype eine treffliche Metapher für die Welt zu Beginn des Jahres 2019 zu sein. Wie immer man das auch deutet, es gibt einen Sinn. Entweder verweigert man die Wahrnehmung der sozialen Realität, weil man den allgegenwärtigen Irrsinn nicht mehr aushält, oder man ist in seiner Wahrnehmungsblase, in der der Unterschied zwischen wahr und falsch keine relevante Rolle mehr spielt, gefangen und strauchelt im übertragenen Sinne mit verbundenen Augen durchs Leben.

Im ersten Fall haben die bösen Dämonen, denen man nicht länger ins Gesicht blicken mag, ganz konkrete Namen: Gewählte oder mit Gewalt an die Macht gelangte Führer, die Weltpolitik auf Steinzeitniveau machen. Oder Wirtschaftsführer, die verantwortungslos nur an Profite, Aktienkurse und Quartalsabschlüsse denken und denen die Zukunft scheißegal ist. Trump lässt sich jeden Tag neuen Schwachsinn einfallen, der nur noch insofern überraschend ist, weil man ihm trotz aller Erfahrungen dies naiverweise dann doch nicht zugetraut hätte. Putin spekuliert über einen Atomkrieg, die Chinesen wollen den Anschluss Taiwans erzwingen, notfalls mit militärischer Gewalt, Kim Jong-Un lässt sich neue Drohungen einfallen …

Nach dem Brexit, der Wahl von Trump, Orban, Erdogan, Duterte oder Bolsonaro, dem Wahlerfolg der AfD, dem Diesel-Skandal und so weiter und so fort kann man verstehen, warum es Menschen gibt, die lieber mit verbundenen Augen auf dem Wohnzimmersessel sitzen und sich fragen, ob sie selbst in den Wahnsinn driften oder ob die Welt um sie herum irrsinnig geworden ist.

Und im zweiten Fall haben wir all jene, die durch ihr Verhalten, zum Beispiel als Wähler oder Konsumenten, für diese Entwicklungen mitverantwortlich sind. Denn anders als mit verbundenen Augen kann man es sich kaum erklären, wie jemand auf die Übel dieser Welt damit reagieren kann, dass er oder sie einen Ausweg aus der Misere ausgerechnet von diesen „Problemlösern“ erhofft.

Vielleicht könnte man einen neuen Hype entfachen, indem man einen Film dreht, in dem dämonische Führer und Konzernbosse reihenweise Selbstmord begehen, indem sie sich bis zum Platzen Buttercremetorte mit Blattgoldüberzug in den unersättlichen Rachen stopfen. Vielleicht würde das ja helfen …

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Doc Baumann

Doc Baumann befasst sich vor allem mit Montagen (und ihrer Kritik) sowie mit der Entlarvung von Bildfälschungen, außerdem mit digitalen grafischen und malerischen Arbeitstechniken. Der in den Medien immer wieder als „Photoshop-Papst“ Titulierte widmet sich seit 1984 der digitalen Bildbearbeitung und schreibt seit 1988 darüber.

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4 Kommentare

  1. Interessant, was so alles gelaufen ist. Der Sinn dieser Strömungen erschlisst sich mir auch nicht. Aber logisch, wenn Jeder überall mitschreiben will (wie ich jetzt) und dann über den Mainstream rausragen möchte.
    Gewundert habe ich mich nur über das Geschrei um den „Spiegel“. Viele wollten plötzlich nur noch gut recherchierte Meldungen sehen und direkt danach kam die Meldung von Chinas Mondbesuch. Hat da jemand recherchiert?
    Die meisten Animationen wurden uns als reale Videos verkauft, obwohl die Chinesen es klar als Animationen gekennzeichnet hatten. Die Leute wollen eben Geschichten hören und meist werden dazu Dinge oder Leute erfunden, damit es besser klingt.
    Auch der TV bringt nur selten Dokumentar-Filme. Vieles wird als real angesehen, obwohl im Abspann steht, dass es erfundene Geschichten sind. Wie meinte doch Tom Doch“ „S´ist nicht real; s´ist nur Fernsehen!
    Die Evolution geht weiter und schon bald werden wir durch Roboter abgelöst, deren KI nicht lange braucht, das grösste Problem dieses Planeten zu dezimieren…..

    1. Was war denn mit den Berichten zur chinesischen Mondmission? Die Artikel, die ich gelesen habe, waren alle gut recherchiert und seriös geschrieben. Da gab es auch keinen Quatsch über die „dunkle Seite“ oder dergleichen. Es wurden die besonderen Eigenschaften der Rückseite des Mondes beschrieben, über die Schwierigkeiten einer Landung auf der Rückseite berichtet und die Gründe aufgezählt, weshalb man sich überhaupt für die Rückseite interessiert. Auch die internationale Beteiligung an der Chang’e-4-Mission wurde meist erwähnt; teilweise waren die Kieler Wissenschaftler interviewt worden, die eines der Messinstrumente der Raumsonde entwickelt und gebaut haben.

      Ich erinnere mich nur an einen etwas dummerhaftigen Kommentar – ich habe vergessen, in welcher Zeitung –, dessen Autor abfällig beschied, wir wüssten ja seit den Bildern der Rückseite, die 1959 die sowjetische Raumsonde Lunik 3 aufgenommen hätte, wie die Rückseite aussähe – nämlich praktisch genauso wie die Vorderseite. Das weist nun tatsächlich auf eine schludrige Recherche hin, denn abgesehen davon, dass die Bilder von Lunik 3 gering aufgelöst waren und noch nicht so viel erkennen ließen, wissen wir aufgrund später entstandener, hoch aufgelöster Fotos, dass die Rückseite ganz anders aussieht als die uns zugewandte Seite (zudem unterscheidet sie sich auch geologisch – man müsste wohl selenologisch sagen – von der Vorderseite).

      Insgesamt muss ich aber sagen, dass es hier keinen Mangel an Recherche gab, der mir aufgefallen wäre. (Aber OK: Die Berichterstattung der BILD-Zeitung habe ich nicht überprüft.)

      1. Sorry Herr Hussmann,
        ich hätte vielleicht schreiben sollen, dass kurz nach der Meldung aus China deren gut gemachte Animationen von vielen grossen Medien als real gepostet wurden. Teilweise als Quantensprung appostrophiert.
        Erst später kamen sehr gute Artikel, die z.B. die Problematik der fehlenden direkten Funkverbindung zur Erde aufzeigten.
        Davon abgesehen, kenne ich sogen. Qualitätsmedien, welche zuerst die „Stossrichtung“ eines Artikels festlegen und dann Bilder suchen, die dazu passen.

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