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March for Science

March for Science
Plakat beim March for Science in Kassel / Foto: Doc Baumann

Am 22. April 2017 gingen weltweit Menschen auf die Straße, um gegen die Bedrohung der Wissenschaft zu demonstrieren – ein Thema, das vor Kurzem noch so brisant gewesen wäre wie die Bedrohung von Toastern oder Raufasertapeten. Doc Baumann war beim March for Science in Kassel dabei.

Es tut mir ja leid, Leute – schon wieder ein Beitrag von mir ohne Bezug zu Photoshop und Bildbearbeitung. Aber es gibt Wichtigeres auf der Welt. Manche Menschen ärgert das ja, wie letzte Woche der Kommentar von „Dreamer_56“ zeigt: „Ich würde es schätzen, wenn Docma und ihre Schreiber einfach Wissen vermitteln würde und das Philosophieren bleiben lassen, denn dafür habe ich das Magazin nicht gekauft.“ (wörtlich zitiert, für die Fehler bin ich nicht verantwortlich) Worauf mein Kollege Michael J. Hußmann entgegnete: „Deshalb gibt es die Blog-Beiträge auch als kostenlose Zugabe – selbst für diejenigen, die das Heft gar nicht gekauft haben.“ Ach, lass ihn einfach weiter dreamen …


Worum ging’s beim March for Science?


Das kann man auf der website von http://marchforscience.de/ nachlesen: „Kritisches Denken und fundiertes Urteilen setzt voraus, dass es verlässliche Kriterien gibt, die es erlauben, die Wertigkeit von Informationen einzuordnen. Die gründliche Erforschung unserer Welt und die anschließende Einordnung der Erkenntnisse, die dabei gewonnen werden, ist die Aufgabe von Wissenschaft. Wenn jedoch wissenschaftlich fundierte Tatsachen geleugnet, relativiert oder lediglich ,alternativen Fakten‘ als gleichwertig gegenübergestellt werden, um daraus politisches Kapital zu schlagen, wird jedem konstruktiven Dialog die Basis entzogen. Da aber der konstruktive Dialog eine elementare Grundlage unserer Demokratie ist, betrifft eine solche Entwicklung nicht nur Wissenschaftler/innen, sondern unsere Gesellschaft als Ganzes.“

Dem würde ich näherungsweise zustimmen. Allerdings erscheint mir die Argumentation ehrlich gesagt ein wenig schwach. „Setzen voraus“ ist richtig – es sagt aber nichts darüber aus, ob jeder diese Voraussetzungen anerkennt und teilt. Mit „Wertigkeit von Informationen“ wird es noch schlimmer: Damit ist nämlich– durchaus korrekt – zugestanden, dass diese Wertigkeit sich aus dem System von wissenschaftlichen Aussagen selbst nicht direkt ableiten lässt, sondern sie voraussetzt. (Das ist nichts Schlimmes; wie Gödel gezeigt hat, kann nicht einmal die Mathematik ihre Axiome aus dem eigenen System ableiten.)

Man kann also durchaus die Bedeutung von Wissenschaft in Frage stellen, zum Beispiel, weil man dumm, uninformiert oder tief gläubig ist und vor diesem Hintergrund wissenschaftliche Hypothesen für bedrohlich hält (stimmt in diesem Kontext) oder für ohnehin nur vorläufig (stimmt auch, ist aber nur ein Ausdruck ihrer Weiterentwicklung und der Bereitschaft zum konstruktiven Zweifel).

Für viele Menschen ist Wissenschaft etwas Exotisches und Weltfremdes. Was haben denn Gravitationswellen oder dunkle Materie mit unserem Alltag zu tun? Oder die Relativitätstheorie damit, ob ich das nächste Ausflugslokal finde? Nun ja, erstaunlich viel, denn ohne Berücksichtigung relativistischer Effekte würde das auf Satellitenbasis funktionierende GPS-System keine verwertbaren Positionsangaben machen können. Das Wissen darüber, welche Bedeutung Wissenschaft hat, hat also nichts damit zu tun, welche Bedeutung ihr tatsächlich zukommt.


Wissenschaft und „alternative Fakten“


Für einen fundamentalistisch Gläubigen sind viele wissenschaftliche Aussagen in der Tat „alternative Fakten“. Seine Wahrheit findet er in der Heiligen Schrift. Natürlich nur in der ihm selbst heiligen, die anderen gleichen Namens irren. Da er weiß, wie die Welt entstanden ist und was sie im Innersten zusammenhält, muss jede abweichende Erklärung als „alternatives Faktum“ eingestuft werden. Und da wissenschaftliche Hypothesen sowohl logisch widerspruchsfrei wie empirisch abgesichert sein müssen, hilft als Abwehrmaßnahme nur, das komplette System Wissenschaft in Frage zu stellen.

Man kann aber auch einfach seine Unwissenheit und Viertelbildung zur Schau stellen („Halbwissen“ wäre doch zu sehr geschmeichelt) und etwa behaupten, nun gut, es gäbe zwar eine Erderwärmung (ist ja nun auch schwer zu leugnen), aber die habe rein gar nichts mit CO2 zu tun, sondern komme daher, dass sich die Erde wegen ihrer Rotation der Sonne immer mehr annähere. Die Behauptung stammt nicht von einem Drittklässler, der ein populärwissenschaftliches Buch über Astronomie missverstanden hat, sondern von einem US-Gouverneur! (Man könnte sicherlich leicht ausrechnen, dass die Erde nach Jahrmilliarden ständiger Rotation bei Relation Erderwärmung-Sonnenentfernung schon lange in unser Zentralgestirn gestürzt sein müsste.)

Und Presi Dagobert Trump hat irgendwann mal was davon gehört, dass Impfungen zu Autismus führen und lässt sich weder durch die empirische Widerlegung dieser Behauptung noch durch den statistischen Beweis des Gegenteils davon abhalten, diesen Unsinn als Regierungspolitik umzusetzen. Die Zahl der Autisten wird so zwar nicht sinken, dafür aber die erkrankter und toter Kinder merklich ansteigen.

Auch der Zusammenhang von Impfung und Autismus war einmal eine wissenschaftliche Hypothese und es gab ein paar Beobachtungen, die ihre empirische Überprüfung legitimierten. Wenn es solche Daten gibt, darf man nicht einfach a priori behaupten, die seien falsch. Doch wenn alle Überprüfungen zu negativen Ergebnissen führen, ist es unverantwortlich, aus ein paar Zufallskorrelationen gesundheitspolitische Konsequenzen zu ziehen.


Trump, Erdogan und der March for Science


Während ich diesen Text schreibe, sind die Veranstaltungen zum March for Science in Deutschland mit mehreren Zehntausend Teilnehmer/innen beendet, die in den USA finden gerade statt.

Hierzulande gab es die Demonstration in etlichen Städten. Ich war in Kassel dabei – und einigermaßen enttäuscht, wie ich zugeben muss. Zum einen zählte ich etwa 100 Menschen. Die Organisatoren fanden das ganz erfreulich. Aber Kassel hat eine Universität, 25.000 Studierende, eine entsprechende Anzahl universitärer Lehrer, Verwaltungsangestellte, und wahrscheinlich zusätzlich noch ein paar Tausend Menschen mehr, die von Wissenschaft leben. Wo waren die alle? Geht die das nichts an?

Zum anderen fand ich die meisten Redebeiträge enttäuschend, weichgespült und am Thema vorbei. Als hätten die Redner Angst, politische Aussagen zu machen, wo es doch nur um Wissenschaft geht.

Ich bin doch nicht zu einer Demonstration für die Wissenschaft gegangen – das erschiene mir so sinnvoll wie eine für das Wetter oder für die Architektur. Ich habe meine Teilnahme als Ausdruck des Protests gegen die konkrete Bedrohung der Wissenschaft verstanden. Früher war der Gegner die Kirche, heute sagt schon der Papst, Glaube und Evolutionstheorie müssten kein Gegensatz sein. Aber im Trump-Land sind die Evangelikalen in dieser Hinsicht längst päpstlicher als der Papst und wollen die von der Mehrheit der Bevölkerung geglaubte Erschaffung der Welt laut Genesis I in den Biologiebüchern vertreten sehen. (Wenn sie krank sind, gehen sie allerdings trotzdem zum Arzt statt nur zu beten, und Handys und Computer nutzen sie auch ganz unbefangen.)

Gewiss sind wissenschaftlich fundierte Aussagen darüber möglich, was aus Ländern wird, in denen Wissenschaft ausgehöhlt und ausgetrocknet wird. Eine dumm gehaltene Bevölkerung ist dabei nicht das Schlimmste, weil unter Umständen durchaus erwünscht. Die ökonomischen Folgen jedoch werden sich schnell zeigen, ob nun unter der Ignorantokratur von Trump oder im Sultanat Erdogans. So sehr man sie ihnen und ihren Wählern auch wünschen mag – leiden werden darunter auch die anderen 50%, die das nicht gewollt haben.

 

Wer hätte das gedacht, dass man mal für die Wissenschaft auf die Straße gehen muss? Aber in einer Welt, in der Trump gewählt und Erdogan zum Quasi-Diktator erhoben wird (der erste von einer Minderheit mit rund drei Millionen Stimmen Abstand zu Clinton, der zweite nur dank Einschüchterung und ad-hoc-Wahlfälschung), scheint alles möglich. Für das System Wissenschaft zu sein, ist – für mich – selbstverständlich. Doch es geht darum, klar zu sagen, dass wir gegen die sind, die sie aus Dummheit, Ignoranz und Machtgier in Frage stellen.

March for Science
Teilnehmer/Innen beim March for Science in Kassel / Foto: Doc Baumann
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Doc Baumann

Doc Baumann befasst sich vor allem mit Montagen (und ihrer Kritik) sowie mit der Entlarvung von Bildfälschungen, außerdem mit digitalen grafischen und malerischen Arbeitstechniken. Der in den Medien immer wieder als „Photoshop-Papst“ Titulierte widmet sich seit 1984 der digitalen Bildbearbeitung und schreibt seit 1988 darüber.

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3 Kommentare

  1. Ich war auch – in Jena – und ich finde es richtig sich gegen Ignoranz und Fake News aufzustehen. Klar Wissenschaft irrt im Speziellen auch ab und an und wenn man sich ansieht was heute wieder als gut und richtig gilt (Kaffeetrinken oder das Glas Rotwein am Abend), wurde vor Jahren noch als wissenschaftlich bewiesen verdammt. Nur die Halbwertzeit des Wissens ist heute kurz und zum Glück sind Erkenntnisse nicht mehr in Stein gemeißelt, sondern werden immer wieder durch Diskussion neu hinterfragt.
    Mein Motto beim March of Science war „There is no alternitive to Facts“ – Deswegen lese ich DOCMA, denn auch hier werden Facts gesucht. Wie gerne lese ich die Kolumnen, wie beliebt sind die manchmal peniblen Sezierungen von Fotos, die nicht unbearbeitet zu finden sind. Ich finde Fotomontagen toll, nur es sollte auch immer deutlich vermittelt sein, dass es kein Dokumentarfoto ist – auch dazu dient „Wissenschaft“.

  2. Danke, dito! Wir waren in Bonn, dort war der „March for Science“ auch für Köln und das Ruhrgebiet und es waren keine 1.000 Leute da. SEHR enttäuschend!

    Ansonsten Zustimmung: „Für das System Wissenschaft zu sein, ist – für mich – selbstverständlich. Doch es geht darum, klar zu sagen, dass wir gegen die sind, die sie aus Dummheit, Ignoranz und Machtgier in Frage stellen.“

    Cheers, Ollie

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