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documenta 15: Kunst, Chaos und Politik

Mit seiner ganz persönlichen documenta-Kritik hat Doc Baumann bis ein paar Tage vor dem Ausstellungsende am 25. September 2022 gewartet. Denn allein schon der Ansatz dieser documenta 15 hat Aufmerksamkeit und viele Besucher verdient; niemand soll durch eine individuelle Wertung zurückgehalten werden. Docs Fazit: Eine maßlos aufgebauschte Antisemitismus-Diskussion, interessante politische Ansätze mit wenig interessanter künstlerischer Umsetzung, und viel Chaos im Detail.

documenta 15: Kunst, Chaos und Politik
Foto und Grafik: Doc Baumann

Ich kann nicht sagen, dass ich von dieser documenta 15 enttäuscht worden wäre. Dazu hätte ich mich vorher einer Täuschung hingeben müssen – ich hatte nichts anderes erwartet. Sie hat mir so wenig gefallen wie viele ihrer Vorgängerinnen. Immerhin war der Ansatz bemerkenswert: ein indonesisches Kuratorenteam, kollektive Strukturen, eine klare politische Ausrichtung, der Versuch, sich den Verwertungsmechanismen des Kunstmarktes zu entziehen.

Auch wenn sich meine künstlerischen Vorlieben eher an Hans Holbein und Piranesi orientieren, finde ich Kunst mit explizit politischem Anspruch höchst spannend und wichtig. Daher schätze ich nicht den politischen Anspruch negativ ein, im Gegenteil, sondern seine künstlerische Umsetzung. Nach meinem Verständnis – das durchaus nicht jeder teilen muss –, gibt es den Bereich der Kunst mit spezifischen Funktionen und Mitteln, und einen, den man im weitesten Sinne „wissenschaftlich“ oder „diskursiv“ nennen könnte (und gewiss auch Überlappungszonen).

Ich lerne gern aus Büchern, Artikeln, Web-Beiträgen oder Fernsehdokumentationen etwas über die Folgen der Altkleiderexporte in afrikanische Länder oder über palästinensischen Widerstand. Aber auf einer Kunstausstellung erwarte ich, dass diese Themen eben „künstlerisch“ aufbereitet und nicht lediglich dokumentiert wurden. Und von einer Weltkunst-Ausstellung wie der documenta erwarte ich zudem, dass das auf hohem Niveau stattfindet.

Erklärungen dazu sind wichtig und hilfreich – aber wenn ich erst lange Texte neben den Exponaten lesen muss (dazu gleich mehr), genügen viele Werke nicht der Anforderung, auf künstlerische Weise aus sich selbst heraus Inhalte zu vermitteln. Ausführliche Erläuterungen sind eigentlich Aufgabe des Katalogs (der dieser Anforderung nicht hinreichend nachkommt und angesichts eines Meteoritenschauers aus Gender-Sternchen kaum lesbar ist).

Nun weiß ich als Kunstwissenschaftler natürlich, dass das mit dem Verständnis so eine Sache ist. Wir „verstehen“ im besten Falle aktuelle Werke unseres Kulturkreises; Symbolik, Attribute und Zusammenhänge von Werken vergangener Zeit oder aus anderen Gesellschaften können wir nur oberflächlich zur Kenntnis nehmen. Allein das „Lexikon der christlichen Ikonographie“ umfasst acht Bände: Selbst in einer simplen Kreuzigungsszene bleibt vieles von dem, was sich im Hintergrund abspielt, für die Betrachter dunkel, denen eben dieses „Hintergrundwissen“ fehlt. Von daher ist das mit den ergänzenden Erläuterungen nicht ganz einfach. (Am Rande: das Museum Fridericianum, das zentrale Ausstellungsgebäude der documenta, wurde 1779 als erster Museumsbau des europäischen Kontinents errichtet.)

Jetzt will ich Ihnen aber doch noch eines der wenigen Werke zeigen, die mich beeindruckt haben. Zwar transportiert auch dieses seine Aussage nicht mit visuellen Mitteln, sondern muss – wie viele andere Werke des Malers – auf Schrift zurückgreifen, ist aber dennoch sehr intelligent, pfiffig und reduziert. Dass der Australier Richard Bell ein Aborigine vom Stamm der Kamilaroi ist, erahnt man an den typischen Ornamenten im Hintergrund. Die geradezu elegante Form des Gemäldes steht in einem verstörenden Spannungsverhältnis zu seiner antirassistischen und antikolonialen Aussage; in Abänderung des Satzes „Black lives matter“ heißt es bei Bell: „White lies matter“. Leider hängt das Bild fast versteckt im Treppenhaus des Museum Fridericianum; ich habe es bei einer kurzen Ruhepause eher zufällig entdeckt.

documenta 15
Richard Bell: „White Lies Matter“ – eine intelligente Umkehrung des Slogans „Black Lives Matter“. Foto: Doc Baumann

Alltägliches documenta-Chaos

Kommen wir von der großen oder nicht ganz so großen Kunst runter auf den Alltag einer Ausstellung und meine persönlichen Erfahrungen dort. Das erste Erlebnis dazu hatte ich lange vor meinem Ausstellungsbesuch: Die Typographie des Auftritts, grauenvoll! Diese lächerlich weit auseinandergezogenen Wörter „June … 18 … – … Kassel … September . 25 … 2022. Irgendwie muss man ja den Platz füllen, auch „Kassel“ dazwischenschieben, noch dazu in einem anderen Font, unten geht’s irgendwo weiter mit der Ausstellungsdauer.

Dann diese kaum lesbare Kindergartenhandschrift zwischen den sinnlos zerstückelten Wortfragmenten (die auch dafür sorgt, den Ausstellungsplan der Standorte unnachvollziehbar zu machen). Und all diese laienhaften Bemühungen als Aushängeschild für eine Ausstellung, welche als die wichtigste für Gegenwartskunst auf dem ganzen Planeten gilt! 14 documentas haben bei der Durchnummerierung ihre Internationalität schlicht durch eine Zahl signalisiert; die muss als solche sprachlich nicht spezifiziert werden, weil sie in jedem Land auf ihre je eigene Weise ausgesprochen wird. Doch nun muss sich diese Internationalität durch eine explizite „Fifteen“ beweisen.

documenta 15
Grusel-Typographie der Weltkunstausstellung

Bleiben wir bei der Typographie. Bei der vorigen documenta hatte ich bei der Einlasskontrolle nachgefragt, ob man Hunde mitbringen dürfte. Das wurde vehement verneint. „Schade,“, sagte ich, „es sah ja so aus.“ Wieso es so aussehe? Na, weil die Ausschilderungen doch in passender Betrachtungshöhe für Hunde angebracht seien (allerdings nur für solche mit sehr guten Augen). Aber ich will nicht missgünstig sein, die documenta hat aus der Kritik gelernt. Die Schilder sind nun hast zehn Zentimeter höher gerückt und damit immerhin für Kinder lesbar.

documenta 15
Rückenschmerzen garantiert: Informationsangebot der documenta 15. Foto: Doc Baumann

Da hängen dann also DIN A4-Zettel an der Wand, meist eine deutschsprachige Spalte links, eine englische rechts. Doch der Schriftgrad entspricht dem einer Zeitschrift, die man sich in normaler Leseentfernung vor die Augen halten kann: 11 Punkt. Geht’s noch? (Kleiner Tipp: Bei Vermeidung der hier wie im Katalog allgegenwärtigen Gendersprachformen ließe sich rund ein Viertel der Textlänge zugunsten des Schriftgrades einsparen.)  Da gutes Lesen-können auch etwas mit Kontrast zu tun hat, sind zudem viele dieser Tafeln zur weiteren Erschwerung auf braunem Papier gedruckt. Aber es gibt löbliche Ausnahmen; in der Dependance „Hübner-Areal“ hängen auch Tafeln mit großer Schrift in Augenhöhe, schwarz auf weiß. Also ein seltener Fall guter Lesbarkeit? Leider nicht – der Raum ist völlig dunkel, nur ein paar Lichtinseln bei den Exponaten; lesen ist also auch hier nicht möglich.

documenta 15
Schriftafel in sinnvoller Höhe, in großen Schriftgrad, schwarz auf weiß …
mangels Beleuchtung aber ebenfalls nicht lesbar
Foto: Doc Baumann
documenta 15
Für ein Informationsblatt, das man zum Lesen in der Hand hält, wäre diese Typographie angemessen – in der 11-Punkt-Schrift wie in Zeitschriften oder Büchern, noch dazu in Nabelhöhe, schwarz auf braun, ist das eine Zumutung. Foto: Doc Baumann

Einige Male habe ich Ausstellungsstücke, die ich aus den Medien kannte und nun gern näher anschauen wollte, nicht gefunden. Kein Problem, es sitzen ja überall junge Leute, die Auskunft geben können. Oder könnten. Denn mehrfach erhielt ich, nachdem ich sie unhöflich beim viel wichtigeren Starren aufs Smartphone gestört hatte, die ernüchternde Antwort: „Weiß ich auch nicht.“ Wie sich nach weiterem Suchen herausstellte, jeweils ein paar Meter vom erfragten Exponat entfernt.

Die Ausstellungsorte sind über ganz Kassel verteilt, was höchst unbequem, aber gesundheitsfördernd ist. Leider weiß man nicht genau, was einen jeweils dort erwartet – meist eine Handvoll Werke, derentwegen man den Weg nicht auf sich genommen hätte, hätte man das vorher gewusst.

Eine nette Geste der Ausstellungsmacher ist die Einbeziehung des Arbeiterviertels Bettenhausen, einige Kilometer entfernt im Osten der Stadt. Eine große Tafel im Zentralgebäude verweist auf die regelmäßig dorthin verkehrenden Shuttle-Busse – verschweigt aber leider, wo sie abfahren. Erste Mitarbeiterhin: „Kann ich Ihnen leider nicht sagen.“ Zweiter Mitarbeiter: „Da hinten an der documenta-Halle, aber ich glaube nicht, dass die überhaupt fahren.“

Na ja, ist ja kein Problem, nimmt man eben die Straßenbahn. Umweltgerecht ist der Preis für die Nutzung des Öffentlichen Nahverkehrs im Eintrittspreis enthalten. Herauszufinden, welche Bahn dorthin fährt und in welche Richtung es überhaupt gehen soll, bleibt einem dagegen selbst überlassen und ist für Ortsunkundige aus aller Welt ein Abenteuer. Wie der Fahrplan schließlich ausweist, fahren sogar zwei Linien dorthin. Die Leuchtschriftanzeige hingegen belehrt einen etwas Schlechterem für eine der beiden: „entfällt“. So stellt man sich das in der Welt-Kunsthauptstadt Kassel vor mit der Mobilität! Die andere Bahn ist gerade weg, also eine Viertelstunde warten. Die kommt dann auch fast pünktlich, ist aber wegen Wegfalls der zweiten Linie so überfüllt, dass ich mich zwar gerade noch hatte reinquetschen können, aber zur Vermeidung einer Corona-Infektion lieber wieder ausgestiegen bin.

Was übrigens den allerorten auf der Ausstellung thematisieren Umweltschutz betrifft: Um für die Fahrt nach Bettenhausen Katalog und Pressematerial nicht unterm Arm tragen zu müssen, wollte ich eine documenta-Tragetasche erwerben. Doch die Verkäuferin raunte mir zu: „Würde ich Ihnen nicht zu raten. Die stinken bestialisch und sollen ziemlich giftig sein.“

Antisemitische documenta 15?

Das alles ist lästig und ärgerlich, aber letztlich Kleinkram. Großkram dagegen sind die heftigen Vorwürfe, die Medien und Politiker während der gesamten Ausstellungsdauer erhoben haben. Die fingen bereits lange vor der Eröffnung an, weil einige Mitwirkende die Politik des Staates Israel verurteilen. Selbst die Gedenkveranstaltung zum Münchner Olympia-Attentat 1972 musste später dafür herhalten, dass Josef Schuster vom Zentralrat der Juden die „unerträgliche“ documenta als „antisemitische Kunstschau in die Geschichte eingehen“ sah, die seine „kühnsten Albträume übertroffen“ habe.

Doch während sich meine Begeisterung über die documenta insgesamt sowie einige der beschriebenen Rahmenbedingungen in Grenzen hält, kann ich nach Sichtung der kritisierten Exponate klar sagen: Antisemitismus sehe ich da nirgendwo.

Aber alle sprangen erst mal auf, und ohne sich weiter kundig gemacht zu haben, schimpften sie kräftig mit und verkündeten, beim Bundeskanzler angefangen, der documenta die Ehre des Besuchs zu versagen. Lieber Kulturbanause, als in der Nähe  des Antisemitismus verortet zu werden. Dem würde ich sogar zustimmen, hätte es den wirklich gegeben.

Doch erstens ist selbst nach Aussagen der schärfsten Kritiker nicht mal ein Zehntel Prozent der Exponate angeblich antisemitisch, was das mit der „antisemitischen Kunstschau“ als etwas übertrieben erscheinen lässt. Einer der prominentesten Kritiker war Volker Beck von den Grünen und Präsident der Deutsch-israelischen Gesellschaft, der behauptete: „Die documenta fifteen ist wirklich ein Epochenwechsel in der Geschichte des deutschen Nachkriegs-Antisemitismus.“

Das stimmt zwar nicht, wäre aber hinzunehmen, als Präsident muss er so was wohl so sagen. Nur ist es völlig unglaubwürdig, denn derselbe Volker Beck hatte 2005 die Mohammed-Karikaturen noch so kommentiert: „Muslime müssen genau so wie die christlichen Kirchen und Juden Kritik und Satire ertragen.“ Der zentrale Prophet einer anderen Religion darf also nach Beck durchaus karikiert werden – ein x-beliebiges Mitglied der eigenen ein paar Jahre später aber keinesfalls …

Nehmen wir ein Beispiel, das gleich nach der Eröffnung großen Wirbel verursachte: Das riesige Wandbild „People’s Justice“ der indonesischen Politkünstlergruppe Taring Padi von 2002. Das Bild ist viele Jahre alt und wurde ohne Beanstandungen schon in etlichen Ländern gezeigt. Doch auf der documenta entdeckten Antisemitismus-Jäger unter den Hunderten von Figuren nach ein paar Tagen eine, die ihrer Schläfenlocken wegen ein Jude sein könnte, sowie eine andere, die mit Aufschrift und Davidstern klar als Mossad-Agent erkennbar war. Der sei als Schwein dargestellt.

Ob das stimmt, ließ sich vor Ort nicht länger feststellen, denn das Bild wurde umgehend abgehängt, mögliche Diskussionen vor dem Objekt somit gezielt verhindert. Doch es gibt Fotos. Schaut man sie sich näher an, so ist dort von einer Schweineschnauze gar nichts zu erkennen; der Agent trägt wie die Reihe anderer, ebenfalls negativ gezeichneter Geheimdienstler einen Helm mit einer Art Gasmaske (das Bild bezog sich seinerzeit auf die ausländische Unterstützung der Suharto-Diktatur, unter der mehr als eine Million Regimekritiker ermordet worden waren). Zudem haben Schweineschnauzen keine viereckigen Löcher.

Kleiner Ausschnitt aus dem großen Wandbild von Taring Padi „People’s Justice“ von 2002, das zwischen Hunderten Figuren einen israelischen Mossad-Agenten zeigt und als antisemitisch eingestuft wurde. Foto und Grafik: Doc Baumann

Doch selbst angenommen, es sei eine Schweineschnauze – Gegner werden in der indonesischen Ikonographie durchaus als Schweine oder Ratten dargestellt. Na und? Andere Agenten in der Reihe haben zum Beispiel Totenköpfe. Der Davidstern kennzeichnet ihn nicht als Juden, sondern als Bediensteten des Staates Israel.

Ein Vortrag gegen die „antisemitische“ documenta hatte den Titel „Bilder, die töten“. Das ist nicht nur übertrieben, sondern vor allem deswegen unerträglich, weil der Mossad nicht nur metaphorisch tötet, sondern sehr real.

Andere Exponate, die kurz vor Ausstellungsende Kritik auf sich zogen, waren palästinensische Videos. Es war ja sogar extra – dies ganz sicher „ein Epochenwechsel“ mit der documenta fifteen – ein „Expertengremium“ installiert worden, das Antisemitisches aufspüren sollte. Dessen Kunst-Kompetenz ist bemerkenswert. Denn nachdem mit diesen Videos wieder einmal vorgeblich Antisemitisches entdeckt worden war, beklagte es die Einseitigkeit eines palästinensischen Propagandafilms. Sicherlich ist der einseitig und Propaganda. So wie christliche Kreuzigungsszenen nicht auch die römisch-juristische Perspektive von Pilatus thematisieren und Kunstwerke, die Umweltzerstörung anprangern, nicht ausgewogen die Profitinteressen der Chemieindustrie berücksichtigen. Wenn nun Einseitigkeit die Verdammung von Kunstwerken legitimieren soll, empfiehlt sich dieses Gremium als passende Keimzelle künftiger Zensurbehörden.

„Wir geben der internationalen Kunstwelt hier nur die Möglichkeit, sich zu präsentieren, und deshalb können wir nirgendwo sagen, das machen wir und das machen wir nicht, da würden wir die erste Art der Zensur machen.“ Das sagte mir 1977 der Geschäftsführer der documenta 6, Dr. Rolf Lucas, Jurist und seinerzeit CDU-Fraktionsvorsitzender in Kassel, in einem Interview. Goldene Zeiten!

Das Problem ist, dass sämtliche Varianten von Kritik, die in den Exponaten dieser documenta im Rahmen der Kunstfreiheit zum Ausdruck kommen, inhaltlich geteilt oder zumindest toleriert werden: An Kriegen, Gewalt, Diskriminierung, Kapitalismus, Profitgier oder Umweltzerstörung. Lediglich die Kritik des Staates Israel gilt als unerträglich. Kein Wunder, dass nach den ständigen Angriffen gegen das Kuratorenkollektiv ein Plakat aufgehängt wurde „Free Palestine from German guilt!“

Denn das eigentliche Problem ist die instrumentalisierte Neudefinition des Antisemitismus-Begriffs. Es gibt gute Gründe, wenn sich Deutsche nach dem Holocaust Zurückhaltung auferlegen, ebenso, dass dieser Abschnitt unserer Geschichte noch immer breiten Raum in Ausbildung und Diskurs einnimmt und nicht vergessen oder relativiert werden darf. Früher war die Sache klar und gut begründet: Antisemitismus ist die Zurückweisung, gar der Hass gegen Menschen, nicht wegen bestimmter Handlungen, sondern allein deswegen, weil sie Juden sind.

Doch um 2017 herum änderte sich das plötzlich. Mit einem Mal galt als Antisemit nicht nur, wer die anerkennten Kriterien des Judenhasses erfüllte, sondern auch, wer den Staat Israel kritisierte. Wobei immer betont wurde und wird: Natürlich dürfe man die Politik Israels kritisieren, aber nicht, indem man sich gegen diesen Staat als jüdisches Kollektiv wende. Das führte mit einem Schlag zu einer wundersamen Vermehrung von Antisemiten. (Die sogenannte „Jerusalemer Erklärung“ von 2021 bietet dagegen klare und nicht instrumentalisierte Kriterien für Antisemitismus.)

Nun gab es schon damals, zumindest hierzulande und abgesehen von rechtsradikalen und radikalislamischen Judenhassern, kaum je eine Kritik, die Israel unter diesem Aspekt betrachtet hätte. Es ging nicht um den Staat der Juden oder seine Existenzberechtigung, sondern um dessen Umgang mit den Palästinensern, insbesondere um die Siedlungen auf deren besetztem Land.

Vollends absurd wurde diese maßlose Ausweitung und Verwässerung des Antisemitismus-Begriffs aber bereits ein Jahr später, als das israelische Parlament das „Nationalstaatsgesetz“ verabschiedete, das den ausschließlich jüdischen Charakter des Staates betonte. Wer also Israel als das zu bezeichnen wagt, was sein eigenes Parlament 2018 festgeschrieben hat, gilt hierzulande als Antisemit.

Das ist etwa so, als kassiere man als Fahrradfahrer einen Strafzettel, weil man eine Straße benutzt, an deren Anfang das Schild „für Autos verboten“ steht – mit der Begründung, das eigene Fahrzeug habe schließlich auch Räder.

Daraus könnte man gewisse Schlüsse ziehen: „Rechte und extrem rechte Kräfte steuern Israels Politik. Und Israel prägt die Positionen des Zentralrats. Sprich, der konservative und rassistische Flügel der israelischen Rechten verwaltet indirekt Deutschlands Gefühle in Bezug auf Juden, Antisemitismus und Israel.

Wie konnte es dazu kommen? Israel hat den Antisemitismus zu einem mächtigen politischen Instrument gemacht. Unsere konservativen Regierungen haben dieses Konzept stetig erweitert. Demnach ist jede Kritik an Israel gleich Antisemitismus, jeder politische Gegner ein Feind, jeder Feind gleich Hitler und jedes Jahr 1938. Das ist gewissermaßen die Bewusstseinsinfrastruktur israelischer Politik. Deutschland spielt hier eine Schlüsselrolle: zur Absegnung des von Israelis in der Gegenwart begangenen Unrechts – wie eine Art historisch-politisches Kashrut[Koscher]-Zertifikat.“ Einem deutschen Autor würden solche Sätze umgehend allerheftigste Kritik einbringen – geschrieben hat das aber am 28.7.2022 in der „Berliner Zeitung“ Avraham Burg, Ex-Präsident der Knesset und Vorsitzender der Zionistischen Weltorganisation.

Die Besucher ließen sich zum Glück von diesem ansonsten fast einstimmigen Chor aus Politik und Medien (aus dem man mitunter allzu deutlich heraushörte, dass hier wohl eher nach einem Anlass gesucht wurde, die Ausstellung aus der „Provinzstadt“ Kassel in eine repräsentativere Umgebung zu verpflanzen) nicht beirren und strömten trotz Corona-Einschränkungen in gewohnter Menge zur documenta 15.

Besonders schmerzhaft sei es, von seinem selbst geworfenen Bumerang getroffen zu werden, schieb ein Kritiker der Ausstellung. Er könnte, wenn auch anders als gemeint, recht behalten.

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Doc Baumann

Doc Baumann befasst sich vor allem mit Montagen (und ihrer Kritik) sowie mit der Entlarvung von Bildfälschungen, außerdem mit digitalen grafischen und malerischen Arbeitstechniken. Der in den Medien immer wieder als „Photoshop-Papst“ Titulierte widmet sich seit 1984 der digitalen Bildbearbeitung und schreibt seit 1988 darüber.

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9 Kommentare

  1. „White Lies Matter“ hatte ich auch erst beim zweiten Gang durch das Treppenhaus entdeckt (und einen Teil des rechten Flügels erst am nächsten Tag, weil ich beim ersten Mal irgendwie die Abzweigung zum Turm verpasst hatte – dieser Teil des Fridericianums ist ja etwas verwinkelt). Es ist leicht zu übersehen und der kontrastarme Text springt nicht sofort ins Auge. Die verborgene Botschaft im weiß-in-weiß gehaltenen Bild ist aber natürlich der Witz daran. Ich habe mich gefragt, ob hier neben der Anspielung auf „Black Lives Matter“ nicht noch ein Wortspiel dahinter steckt: „White Lies“ kann ja nicht nur „Lügen der Weißen“, sondern im übertragenen Sinn auch „harmlose Lügen“ heißen, also so etwas wie Notlügen, die man sich schon mal erlauben dürfe. Dann könnte es bedeuten, dass manche vermeintlich harmlosen Lügen von Weißen gar nicht so harmlos sind.

    Auch die Arbeiten von Dan Perjovschi, an der Außenfront des Fridericianums, in dessen Foyer und auf dem Platz vor dem Kulturbahnhof, basieren ja weitgehend auf Text (und simplen Zeichnungen), und auch sie sprachen mich an. Die politischen Botschaften sind durchweg einfach gestrickt, aber das ist ja beispielsweise bei Klaus Staeck nicht anders. Und eine scheinbar simple Frage wie „Is China decolonising Hong Kong?“ (auf einem der Pfeiler des Fridericianums) hat es durchaus in sich. Übrigens in schwarzer Schrift auf schwarzem Grund und von daher auch nicht besonders augenfällig.

  2. Danke für die Aufklärung bezüglich der „White Lies“, das wusste ich nicht. Wieder was gelernt. Das mit der schwarzen Schrift auf schwarzem Grund von Perjovschi habe ich nicht gesehen, aber es passt ja gut zum „Typo-Konzept“ der d15.

  3. »Israel hat den Antisemitismus zu einem mächtigen politischen Instrument gemacht«. What?! Uff! Es ist eine seit langem gern genommene Taktik, Antisemitismus hinter angeblichem Antizionismus zu verstecken. Die »Künstler*innen« und all diejenigen, die deren Werke verteidigen, machen sich zunutze, dass die unzähligen Konnotationen, welche Antisemitismus transportieren, häufig nicht (mehr) bekannt genug sind. Der Davidstern ist KEIN Nationalsymbol wie etwa Bundesadler. Ein Wanderer mit Stab und Geldsack? Hmm, was? »Wanderjude«? Nie gehört! Ein SS-Mann mit Schläfenlocken? Purer Zufall! Da ist es nicht mehr weit bis zum nächsten »Schlussstrich«-Ruf!?
    Ein Beitrag, der Docma sehr, sehr tief in meinem Ansehen sinken und Herrn Baumann als igno/arrogant und geschichtsvergessen erscheinen lässt. Schade.

    1. Sollte Ihnen nicht zu denken geben, dass das der Vorsitzende der Zionistischen Weltorganisation gesagt hat, nicht ich? Schlusstrich-Ruf? Steht in meinem Text nicht genau das Gegenteil: “ … gute Gründe, wenn sich Deutsche nach dem Holocaust Zurückhaltung auferlegen, ebenso, dass dieser Abschnitt unserer Geschichte noch immer breiten Raum in Ausbildung und Diskurs einnimmt und nicht vergessen oder relativiert werden darf“. Und wieso darf ich nicht darauf hinweisen, dass die neue Definition von Antisemitismus von 2017 und der Knesset-Beschluss des Nationalstaatsgesetzes von 2018 als unlösbarer Widerspruch sich gegenseitig logisch ausschließen?
      Mit keinem Wort habe ich Antisemitismus gerechtfertigt, im Gegenteil – aber ich bin auch nicht bereit, mich der instrumentalisierten Gleichsetzung mit Kritik der Politik Israels zu unterwerfen.
      Ihre unsachlichen Vorwürfe bestätigen dankenswerterweise meine Position: keinerlei Argumente oder Widerlegungen, Verdrehung meiner Worte, falsches Zitieren, persönliche Beschimpfung als ignorant, arrogant und geschichtsvergessen ohne Belege, und Pauschalisierung, als habe DOCMA irgendwas damit zu tun. Ich gebe bloß meine Überzeugungen nicht an der Garderobe ab, wenn ich Herausgeber bin. Vielen Dank!

    2. „Der Davidstern ist KEIN Nationalsymbol wie etwa Bundesadler.“ Die Flagge Israels enthält zwei Symbole, einen Gebetsschal (zwei blaue Streifen auf weißem Grund) – und einen Davidstern. Wenn das dominierende Symbol auf der Flagge eines Staats kein Nationalsymbol sein soll, dann weiß ich auch nicht.

    1. Der größte Teil der Vorwürfe von Lobo ist sachlich falsch. Er sollte sich besser über die Hintergründe – z.B. indonesischer Ikonographie – informieren, bevor er solche Märchen in die Welt setzt, die dann von anderen aufgegriffen und als Fakten behandelt werden. Und auch hier wieder die Gleichsetzung von Israel-Kritik und Antisemitismus. Schade, dass alle, die in dieses Horn blasen, nicht merken, dass sie damit ständig neues Futter für die wirklichen Antisemiten liefern, frei Haus.

    2. Nachdem ich gerade Ihren Kommentar zur Karl-May-Diskussion gelesen habe, fürchte ich, dass wir da kaum auf einen Nenner kommen: “ … greifst zur typischen Methode der Ablenkung durch Einfordern von »Nachweisen«, »Erklärungen«, was auch immer. Zu durchschaubar.“ Wo kommen wir denn auch hin, wenn zur Absicherung von Behautungen auch noch Fakten eingefordert werden – es reicht doch völlig aus, dass wir unsere politisch korrekten Befindlichkeiten pflegen.

  4. Wer die documenta 15 als antisemita schmäht, wird sie wohl nicht selber besucht haben. Ich fand sie abwechslungsreich, interessant, unverständlich, langweilig – so wie andere von mir besuchte Kunstaustellungen auch.
    Danke für den Beitrag.

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