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Das 4K-Nano-300-fach-Nachtsicht-Autofokus-Wunderteleskop

Wollten Sie immer schon mal die Rückseite des Mondes in allen Details sehen, ohne dazu einen Raumflug buchen zu müssen? Ein Wunderteleskop für unter 100 Euro macht es möglich! Wer’s glaubt …

Die Zeit, in der wir alle dasselbe Internet sahen, ist ja lange vorbei. Unser Verhalten in der Online-Welt wird aufmerksam verfolgt, woraufhin die Algorithmen von Google, Facebook und anderen entscheiden, was auf den von uns besuchten Seiten zu sehen sein soll. Ich bin demnach schon in der Phase, in der ich mich für preisgünstige Treppenlifte begeistern könnte, aber ich schweife ab, wie es ältere Menschen eben tun …

Das 4K-Nano-300-fach-Nachtsicht-Autofokus-Wunderteleskop
Ein Wunderteleskop zum kleinen Preis, wenn man der Werbung glauben mag.

Jedenfalls weiß ich nicht, ob Ihnen in den letzten Tagen dasselbe wie mir aufgefallen ist: Verschiedene Webshops preisen ein relativ kleines, leicht transportables Teleskop mit 300-facher Vergrößerung an, das für weniger als 60 Dollar (inzwischen scheint der Preis auf knapp 70 Dollar gestiegen zu sein) viel verspricht: 4K (was immer das im Zusammenhang mit einem Teleskop bedeuten mag), Autofokus, eine Nachtsichtfunktion und in der Deluxe-Version sogar einen Bildstabilisator. Wasserdicht soll es auch sein.

Es irritiert allerdings, dass dieses Produkt auf wohl 20 oder 30 verschiedenen Webshops angeboten wird, jeweils mit demselben oder sehr ähnlichen Inhalt. Verfügbar ist stets eine begrenzte Stückzahl – nur eine schnelle Kaufentscheidung sichert den Zugriff auf dieses Wunderwerk der Technik. Das Teleskop sei nämlich gerade erst von der Johns Hopkins University erfunden worden (die davon aber nichts weiß) und basiere auf neuester Nanotechnologie.

Das 4K-Nano-300-fach-Nachtsicht-Autofokus-Wunderteleskop
Das Wunderteleskop: Fabelhafte Features

Ein wissenschaftlicher Fachaufsatz („Ultralight Weight Optical Systems using Nano-Layered Synthesized Materials“), der auf den verschiedenen Websites erwähnt wird, existiert tatsächlich. Er ist allerdings sechs Jahre alt und hat weder etwas mit der Johns Hopkins University zu tun (die Autoren sind Natalie Clark vom NASA Langley Research Center und James Breckinridge von der University of Arizona), noch geht es um dieses Teleskop. Das Thema sind vielmehr diffraktive Optiken für Raumfahrzeuge. Das sind flache „Linsen“, die das Licht nicht durch Lichtbrechung, sondern durch die Beugung und Interferenz von Lichtwellen bündeln. Canon und Nikon setzen solche diffraktiven Optiken in einigen Teleobjektiven ein, und Panasonic hat diffraktive Mikrolinsen für spezielle Sensoren für industrielle Anwendungen entwickelt. Das Wunder-Teleskop scheint indes ganz gewöhnliche Glaslinsen zu verwenden.

Autofokus und Nachtsichtmodus wären tolle Features, zumal zum geforderten Preis, aber wie auch immer so etwas realisiert sein sollte, würde es irgendeine Elektronik und daher eine Stromversorgung erfordern. Doch Wunder über Wunder – das Teleskop braucht keine Batterien. Ähnliches würde für den versprochenen „Gyro-Bildstabilisator“ gelten, aber damit scheint nur ein simples Stativ gemeint zu sein, das im „Luxury Package“ gegen einen Aufpreis enthalten ist, dazu eine Halterung für ein Smartphone.

Schon die technischen Eckdaten geben zu denken. Die verschiedenen Facebook-Seiten, die das Teleskop bewerben, versprechen alle eine Öffnung von 45 Millimetern, aber wenn man dann dem Link auf den Webshop folgt, werden dort nur Varianten mit 40 und 30 Millimetern angeboten. Dies scheint zudem der Außendurchmesser des Tubus zu sein; der Durchmesser der Frontlinse ist geringer, vielleicht 35 beziehungsweise 25 Millimeter. Das ist nicht besonders viel, sondern bewegt sich im Bereich üblicher Ferngläser. Gegenüber diesen offeriert das Teleskop allerdings eine weit höhere Vergrößerung – bis zu 300-fach.

Nun gilt ja ganz generell: Wenn ein Fernrohr nicht mit seiner großen Öffnung, sondern mit einer hohen Vergrößerung beworben wird, handelt es sich um ein unseriöses Angebot. Stark zu vergrößern ist keine Kunst und schon gar kein Qualitätsmerkmal. Eine große Öffnung sorgt nicht nur für mehr Licht und macht damit auch lichtschwache Objekte wie weit entfernte Sterne und Galaxien sichtbar, sondern ist auch eine Voraussetzung für eine hohe Vergrößerung – falls diese überhaupt gebraucht wird, was bei Himmelsbeobachtungen nicht unbedingt der Fall ist. Je kleiner die Öffnung, desto größer ist der Einfluss der Beugung, die Punkte als Beugungsscheibchen abbildet, und wenn man dann stärker vergrößert, wird zwar das Beugungsscheibchen größer, aber es werden nicht mehr Details aufgelöst. Eine Faustregel besagt, dass die nützliche Vergrößerung auf das Doppelte der Öffnung in Millimetern beschränkt ist. Das Wunder-Teleskop könnte unter günstigen Umständen bis zu 70-fach vergrößern; eine 300-fache Vergrößerung ist sinnlos.

Die Rückseite des Mondes, wie man sie von der Erde aus nie zu Gesicht bekommt.

Die fabelhaften Leistungsbeweise des Teleskops beschränken sich aber nicht auf eine unrealistisch hohe Vergrößerung. Unter den Bildbeispielen findet sich sogar diese Aufnahme der von der Erde aus unsichtbaren Rückseite des Mondes. Auf Wikipedia findet sich ein sehr ähnliches Foto, das von den Astronauten der Apollo-16-Mission aufgenommen sein soll. Das ist zwar ebenfalls fraglich, aber das Bild zeigt definitiv nichts, das man von der Erde aus sehen könnte.

Die Webshops, die dieses Wunderteleskop feilbieten, haben naturgemäß kein Impressum. Niemand weiß, wer dahinter steckt – der einzige Kontakt ist eine E-Mail-Adresse –, und dass der Hersteller, wie behauptet, in Kalifornien beheimatet ist, bleibt zweifelhaft. Falls die bestellte Ware nicht der Beschreibung entspricht oder vielleicht gar nichts geliefert wird, wüsste man nicht einmal, an wen man sich mit seiner Forderung halten sollte.

[Korrektur: Die vermeintliche Aufnahme der Rückseite des Mondes wurde tatsächlich von den Apollo-16-Astronauten beim Beginn ihrer Rückreise zur Erde gemacht. Mich hatte irritiert, dass die Rückseite fast gänzlich von der Sonne beschienen sein sollte, was aber bedeutet hätte, dass am Landeplatz der Mondfähre Nacht gewesen wäre. Die Erklärung: Das Bild zeigt nur zu etwas mehr als der Hälfte die Rückseite und zum anderen Teil die Vorderseite des Mondes. Auch eine solche Aufnahme kann einem natürlich nicht von der Erde aus gelingen.]

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Michael J. Hußmann

Michael J. Hußmann gilt als führender Experte für die Technik von Kameras und Objektiven im deutschsprachigen Raum. Er hat Informatik und Linguistik studiert und für einige Jahre als Wissenschaftler im Bereich der Künstlichen Intelligenz gearbeitet.

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3 Kommentare

  1. „Das Wunder-Teleskop scheint indes ganz gewöhnliche Glaslinsen zu verwenden.“
    GLASlinsen?
    Im Leben nicht. Ich vermute Kunststoff-Presslinge.
    Wie sagt der Rheinländer?
    „Watt jett ess, dat koss ooch jett…“
    Was taugt, das kostet.
    Aber es gibt, wie es scheint, immer noch genug schlichte Gemüter, die ihr weniges Geld aus dem Fenster werfen…

  2. Solche Wunderangebote gibt es immer wieder. Einen schöner Werbespruch war mal: „Was Sie mit diesem Fernrohr nicht sehen, dass gibt es nicht.“ Ich glaube, das Gerät damals war eine Entwicklung der NASA.
    Es geht aber auch ganz simpel. Im Internet werden Weitwinkelvorsatzlinsen angeboten, die angeblich die Brennweite halbieren oder wenigstens um den Faktor 1,5 verringern. Sogar seriöse deutsche Fotohändler bieten den Unfug an. In der Regel war die Verarbeitung der Teile gut. Mehrere solcher Vorätze habe ich getestet, keiner brachte den Effekt im angepriesenen Umfang. Die Bildqualität litt auch sehr. Ich konnte alle diese Teile umtauschen, selbst aus Hongkong wurde mir der der Kaufpreis erstattet. Was mich wundert: Diese Teile werden vielfach von Kunden hervorragend bewertet. Sind das alles gefälschte Bewertungen oder merken die Kunden den Betrug gar nicht? Ich habe den Eindruck, das Sprichwort „Die Welt will betrogen sein“ stimmt.

    1. Doch, da gibt es durchaus funktionierende Lösungen.
      Ich habe noch das damalige Sony-Spitzenmodell DSC-R1 im Bestand.
      Das war ein Riesenklotz von Bridgekamera mit einem Zoom von 24 bis 120 mm, in exzellenter Qualität.
      Dazu gab es sowohl einen Weitwinkel- , als auch ein Tele-Vorsatzobjektiv.
      Kiloschwere Glasbrocken, die wirklich gute Bilder lieferten.
      Mit so einem Plastikteil vor der Stecknadelkopf-großen Linse eines Handys aber wohl kaum zu erreichen.

      Gruß von Hubert

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