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Verstehen und (nicht) verstehen wollen

Ja, es geht noch einmal um den Fall Böhmermann. Es muss so sein, denn anhand der Reaktionen auf Jan Böhmermanns Beitrag zu Recep Tayyip Erdoğan in Neo Magazin Royale lässt sich illustrieren, wie Kommunikation funktioniert – aber auch bisweilen scheitert.

Jan Böhmermann liest das Gedicht „Schmähkritik“.
Jan Böhmermann liest das Gedicht „Schmähkritik“.

Diejenigen, die sich aktuell in den Medien oder den sozialen Netzen zu Böhmermann äußern, scheinen in zwei Gruppen zu zerfallen. Die einen betrachten das Gedicht „Schmähkritik“ als Element einer komplexen Satire, die mit verschiedenen Ebenen spielt, weshalb man nicht davon ausgehen dürfe, dass Böhmermann den türkischen Präsidenten beleidigen wollte. Die anderen nehmen das Gedicht zum unflätigen Nennwert und halten seinen Kontext für irrelevant. Nun ist Neo Magazin Royale ein Programm, das seine Zuschauer herausfordert. Wer Dieter Nuhrs oder Mathias Richlings Sendungen für den Gipfel der Satire hält, kann Böhmermann möglicherweise nicht folgen, wenn er einen ironischen Haken nach dem anderen schlägt. Das hatte sich schon anlässlich seiner Fälschung eines gefälschten Varoufakis-Stinkefingers gezeigt, die beispielsweise Günther Jauch gründlich zu verwirren schien. Allerdings sind offenbar viele Verächter des Kontextes intelligente Menschen, die durchaus in der Lage wären, eine komplexe Verschachtelung von Metaebenen zu durchschauen – sie entscheiden sich vielmehr, diese bewusst zu ignorieren. Aber haben sie damit recht?

Auch wenn hier ein Hakenkreuz zu sehen ist – ein durchgestrichenes Hakenkreuz verstößt nicht gegen § 86a StGB.
Auch wenn hier ein Hakenkreuz zu sehen ist – ein durchgestrichenes Hakenkreuz verstößt nicht gegen § 86a StGB.

Bevor ich auf Böhmermanns „Schmähkritik“ eingehe, möchte ich aber noch kurz einschieben, dass es eine Kontextabhängigkeit nicht nur bei sprachlichen Äußerungen gibt, sondern ebenso bei der Kommunikation mit Bildern. Ich denke hier an einen anderen Paragraphen des Strafgesetzbuchs als jene, die in Böhmermanns Fall anwendbar sein sollen, nämlich an § 86a StGB. Darin wird das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen verboten, wozu unter anderem das Hakenkreuz und die SS-Runen zählen. Nun ist die Swastika ein wenigstens 12.000 Jahre altes, weltweit in vielen Kulturen verwendetes Symbol, und es ist beispielsweise nicht verboten, ein Hakenkreuz-Ornament eines buddhistischen Tempels zu zeigen (in japanischen Stadtplänen markieren Swastikas die Standorte buddhistischer Tempel, aber diese sollen künftig durch ein Pagodensymbol ersetzt werden, um Ausländer nicht zu irritieren). Ein Historiker darf einen Aufsatz über die Nazizeit mit Fotos illustrieren, die Hakenkreuze zeigen, und auch in Spielfilmen über diese Zeit sind sie nicht verboten. Dagegen bekamen manche Antifaschisten Probleme, die Hakenkreuze in gegen Nazis gerichteten Bildern verwendet hatten. Hier stellte sich das Problem der Negation, das Doc Baumann bereits am Sonntag angesprochen hatte: Wenn ich eine Aussage durch eine Negation in ihr Gegenteil verkehre, bleibt die positive Aussage dennoch als Teil in meiner Äußerung enthalten – „Ich hasse Erdoğan nicht“ enthält „Ich hasse Erdoğan“. Wenn man ein Hakenkreuz durchstreicht oder zertrümmert darstellt, bleibt es ein Hakenkreuz, und aus diesem Grund wurden Nazigegner zunächst nach § 86a StGB verurteilt. Alle diese Urteile wurden jedoch in den höheren Instanzen aufgehoben, und mittlerweile steht fest, dass man in einem Bild mit einer politischen Botschaft durchaus auch ein Hakenkreuz verwenden darf, sofern ersichtlich ist, dass man die dadurch identifizierte Ideologie ablehnt. Hier hat der Bundesgerichtshof dankenswerterweise klargestellt, dass man zur Beurteilung der möglichen Strafbarkeit den Kontext beachten muss, in dem das Hakenkreuz steht. Die Position mancher Juristen, dass man die Hakenkreuze einfach nicht mehr sehen wolle, egal in welchem Kontext, wies der BGH zurück.

Kommen wir zur Causa Böhmermann zurück. Das ZDF hat den kritisierten Teil der Sendung vom 31. März leider aus der Mediathek-Version herausgeschnitten, aber anderswo können Sie sich dieses Segment noch immer vollständig anschauen. Der für die Löschung angeführte Grund, dass dieser Beitrag nicht dem Standard für Satire beim ZDF entspräche, wirkt befremdlich, denn in „Die Anstalt“ oder der „heute show“ wurden den Zuschauern schon weit weniger intelligente Sketche zugemutet. Offenbar zählen aber auch die ZDF-Verantwortlichen zu jenen, die den Kontext ignorieren – im Gegensatz zu den Vertretern der Redakteure, die sich für den Verbleib der vollständigen Sendung in der Mediathek ausgesprochen haben.

Das bewusste Ignorieren des Kontextes wurde damit begründet, dass die mehrfach (vor, während und nach der Lesung der „Schmähkritik“) sowohl von Böhmermann wie auch seinem Sidekick Ralf Kabelka vorgetragene Distanzierung nur ein Trick gewesen sei, um vermeintlich straflos Erdoğan schmähen zu können. Es genüge nicht, nur darauf hinzuweisen, dass so etwas wie dieses Gedicht verboten sei – man könne ja auch nicht schuldlos morden, indem man vorher erklärte, dass das, was man nun tun würde, verboten sei. Das Argument klingt vielleicht plausibel, aber es gibt andererseits auch erhebliche Unterschiede zwischen einer Beleidigung und einem Mord. Geht der Vergleich also auf?

Spätestens seit J. L. Austins „How to Do Things with Words“ (1955) wissen wir, dass sprachliche Äußerungen genauso wie andere Handlungen betrachtet werden müssen, also Sprechhandlungen sind. Sätze können nicht bloß wahr oder falsch sein; vielmehr bewirken sie etwas – beispielsweise kann eine Äußerung beleidigen. Die Sache ist allerdings etwas komplizierter. Austin unterscheidet drei mit einer Äußerung ausgeführte Akte:

  • Lokutionärer Akt: Der Sprecher produziert eine Folge von Lauten oder Schriftzeichen, die Wörter und einen Satz ergeben.
  • Illokutionärer Akt: Der Sprecher macht damit eine Aussage, stellt eine Frage, gibt eine Warnung, droht etc..
  • Perlokutionärer Akt: Der Sprecher bewirkt damit etwas – er überzeugt den Hörer von einem Sachverhalt, veranlasst ihn, etwas zu tun oder zu lassen und so weiter.

Wenn ich schreibe, „Heute ist Mittwoch“ (lokutionärer Akt), treffe ich die Aussage, dass heute Mittwoch ist (illokutionärer Akt), und überzeuge Sie davon, dass der heutige Tag tatsächlich Mittwoch ist (perlokutionärer Akt). Der Sprechakt kann insgesamt nur als gelungen gelten, wenn er den beabsichtigten perlokutionären Akt verwirklicht. Wenn Sie mich nicht verstehen, ist dagegen schon der lokutionäre Akt gescheitert, und falls sie mich für einen Lügner halten, misslang der illokutionäre Akt.

Um zu verstehen, was jemand sagt, genügt es daher nicht, bloß festzustellen, dass er Wörter mit einer bestimmten Bedeutung in einer bestimmten Reihenfolge geäußert hat. Wir müssen herausfinden, was für illokutionäre und perlokutionäre Akte damit bezweckt sind, also was für eine Absicht der Sprecher mit seiner Sprechhandlung verfolgt. Wenn jemand sagt: „E. hat Schrumpelklöten“, dann will er uns vielleicht davon überzeugen, dass E. Schrumpelklöten hat. Aber das ist keineswegs sicher. Es könnte sich beispielsweise um ein Zitat handeln, das sich der Sprecher nicht selbst zu eigen macht. Der Sprecher könnte auch eine Rolle in einem Stück spielen, wobei ihm das Skript diesen Satz vorgibt. Einem Schauspieler, der als Richard III „Mein Königreich für ein Pferd!“ auslobt, können wir kein Pferd präsentieren und das Königreich einfordern, denn der Schauspieler selbst hat nichts versprochen und Richard III ist schon lange tot. Ein Aussage kann auch ironisch gemeint sein und ihr Gegenteil bedeuten: Der Kollege, der aufgrund der ihm aufgebürdeten Überstunden „Ich liebe meinen Chef!“ sagt, tut genau das vermutlich nicht. Was für eine Absicht hinter einer Äußerung steht, können wir nur aus dem Kontext erschließen – was im Vorfeld der Äußerung passiert ist, was für Überzeugungen der Sprecher hat und so weiter.

Um herauszufinden, ob eine Äußerung eine Beleidigung ist, müssen wir uns mit dem illokutionären und perlokutionären Akt beschäftigen, denn wenn es eine Beleidigung gibt, dann nur dort. Die bloße Produktion einer Folge von Lauten lässt sich nicht als Beleidigung klassifizieren. Douglas Adams hat das in „Per Anhalter durch die Galaxis“ persifliert:

Als Arthur zum Beispiel »Mit meinem Lebensstil scheine ich ja wirklich enorme Schwierigkeiten zu haben« sagte, öffnete sich genau im selben Augenblick ein Wurmloch im Gefüge des Raum-Zeit-Kontinuums und trug diese Worte weit, weit zurück durch die Zeit und durch fast unendliche Räume zu einer fernen Galaxis, in der sich sonderbare kriegerische Wesen kurz vor einer grauenhaften interstellaren Schlacht gegenüberstanden. (…) und genau in diesem Augenblick schwebten die Worte »Mit meinem Lebensstil scheine ich ja wirklich enorme Schwierigkeiten zu haben« über den Konferenztisch. Unglücklicherweise war das in der Vl’hurg-Sprache die entsetzlichste Beleidigung, die man sich vorstellen kann, und darauf gab’s als Antwort den fürchterlichsten, jahrhundertelangen Krieg.

Das ist nicht so absurd, wie es klingt, denn wenn es Millionen von Welten mit vernunftbegabten Wesen und jeweils rund 1000 unterschiedlichen Sprachen gibt, ist es nicht nur wahrscheinlich, sondern praktisch sicher, dass sich irgendwelche Aliens von einer harmlosen Äußerung in einer irdischen Sprache tödlich beleidigt fühlen werden. Aber natürlich liegt in einem solchen Fall keine Beleidigung vor.

Für die Beurteilung von Satire bedeutet das, dass wir vom lokutionären auf einen illokutionären Akt und daraus wiederum auf einen perlokutionären Akt schließen müssen, aber dabei gibt es keine eindeutige Lösung – wir müssen auf den Kontext zurückgreifen, um herauszufinden, was eine Äußerung bezweckt. Wer den Kontext ignoriert, kennt nichts als lokutionäre Akte, die für sich genommen keine Beleidigung darstellen können, selbst wenn sich jemand davon beleidigt fühlen mag.

Falls uns der Kontext einer Äußerung einmal unbekannt sein sollte, werden wir normalerweise einen plausiblen Kontext rekonstruieren, um ihren Sinn zu erraten. Man muss Neo Magazin Royale und Jan Böhmermann nicht einmal so genau kennen, um sich vor allzu simplen Interpretationen zu hüten. Auch wer nichts als ein Kabarettprogramm der „Wach- und Schießgesellschaft“ aus den 60er Jahren gesehen hat, ist damit vertraut, dass Satiriker gerne in Rollen schlüpfen und dann Positionen vertreten, die ihren eigenen Positionen entgegengesetzt sind – um diese durch Zuspitzung ad absurdum zu führen oder um sie von einem Kollegen widerlegen zu lassen. Böhmermanns „Schmähkritik“ ist eine kunstlose Aneinanderreihung klischeehafter Beleidigungen, die den Adressaten wahllos und ohne Rücksicht auf innere Stimmigkeit als zoophil, homosexuell, inzestuös, impotent, sexuell unersättlich und so weiter charakterisieren – wer könnte ernsthaft denken, diese absurde Anhäufung würde Böhmermanns Ansichten entsprechen? Natürlich kann man sich davon trotzdem beleidigt fühlen, aber man muss nicht. Oliver Kalkofe hat auf den Punkt gebracht, wie man souverän auf solche Anwürfe reagiert: „… wenn mich jemand auf der Straße als ‚Ziegenficker‘ bezeichnet, würde ich ihm sagen, dass er mich wohl verwechselt.“ Denn die Schmähung mag zwar schlimmer als eine sachliche Kritik erscheinen, aber nüchtern betrachtet ist es umgekehrt: Eine sachliche Kritik muss man mit guten Argumenten entkräften, wenn nichts hängenbleiben soll, während man eine Schmähung an sich abperlen lassen kann. Wer käme auch auf die Idee, auf den Vorwurf von „Schrumpelklöten“ hin den Gegenbeweis anzutreten?

Michael J. Hußmann
Michael J. Hußmann
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Michael J. Hußmann

Michael J. Hußmann gilt als führender Experte für die Technik von Kameras und Objektiven im deutschsprachigen Raum. Er hat Informatik und Linguistik studiert und für einige Jahre als Wissenschaftler im Bereich der Künstlichen Intelligenz gearbeitet.

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Kommentar

  1. Sehr geehrter Herr Hußmann,

    daß der Beleidigte nur beleidigt sein darf, wenn er die Beleidigung richtig „verstamdem“ und infolge des Verständnisses nicht mehr beleidigt ist resp. sein kann, ist kein zulässiger Schluß, den Knick in der Logik muß ich Ihnen, denke ich, nicht weiter ausführen.

    Ich bin nicht das Auffassung, daß man ein Gourmet der Satire Böhmermanns sein muß, um dazu berechtigt zu sein, beleidigt sein zu dürfen. Man kann – mit Recht und Fug – beleidigt sein, worüber man sich als unsachgemäßen Angriff auf die eigene Person ärgert, und je nach dem wird das Gericht das auch als Beleidigung anerkennen.
    Nirgendwo steht nämlich geschrieben, daß man einen IQ von mindestens 140 Punkten haben muß, um beleidigt sein und die Justiz in Anspruch nehmen zu dürfen.
    Von den beiden Optionen des Adressaten, wegen irgendwelcher Äußerungen beleidigt zu sein oder es achselzuckend bleiben zu lassen, sind vor dem Gesetz beide gleichermaßen und gleichwertig zulässig.

    Nein – ich kann Herrn Erdogan auch nicht leiden. Ich finde es aber beschämend, jemandem – und wer es auch immer sei – das Recht eines jeden einzelnen Menschen abzusprechen, von den Möglichkeiten Gebrauch zu machen, die der Rechtsstaat bietet.

    Im übrigen finde ich die intellektuelle Akrobatik erheiternd, mit der bewiesen werden soll, daß Böhmermanns Schmähkritik als solche nur ein Mißverständnis eines geistig minderbemittelten Idioten ist, mit der Forderung als Folge, die Strafanzeige von vornherein nicht zu verfolgen.

    Im übrigen kann niemand, vor allem auch der ach so intellektuelle Herr Böhmermann, von der Reaktion Erdogans überrascht sein. Schon seine Reaktion auf die (sehr gelungene und darüberhinaus unangreifbare) Satire von extra3 hat Anlaß dazu gegeben, davon auszugehen, daß da mehr kommen könnte. Niemand kann sich damit herausreden, daß mit einer Strafanzeige oder so nicht zu rechnen war, weil ein „intelligenter Mensch“ darüber erhaben sei. Die Empörung darüber ist einfach scheinheilig.

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