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documenta 15: We need to talk!

Es sah lange nach einem herbeigeschriebenen Skandal aus, aber nun gab es doch klar antisemitische Motive in einem Bild auf der gerade eröffneten documenta 15 zu sehen, noch dazu einem riesengroßen Werk auf einem zentralen Platz, das daraufhin erst verhüllt wurde und nun abgebaut wird. Was ist denn da in Kassel los?

Das Bild People’s Justice, um das es hier geht, ist nicht einmal ein neues, noch nie gesehenes Kunstwerk. Taring Padi, ein indonesisches Institut für bürgernahe Kultur, das 1998, in der Zeit nach dem Rücktritt des Diktators Suharto, von linken Studenten und Aktivisten gegründet worden war, hatte es 2002 erstmals in Australien auf dem South Australia Art Festival in Adelaide gezeigt; zuletzt war es 2019 im chinesischen Nanjing zu sehen gewesen.

documenta 15: We need to talk!
Eine Erklärung der documenta 15 zum Bild „People’s Justice“ von Taring Padi

Es ist ein riesiges Wimmelbild, dessen Inhalt man allenfalls mit guten Kenntnissen der indonesischen Verhältnisse während der 32-jährigen Suharto-Diktatur entschlüsseln kann (hier ist es im Ganzen und in Details zu sehen). Auf seiner linken Hälfte tummeln sich Monstren, teilweise als Polizisten und/oder Soldaten zu erkennen. In einer Gruppe behelmter und maskierter Polizisten erkennt man einen, der einen „Mossad“-Schriftzug auf dem Helm und einen Davidstern auf dem Halstuch trägt; in seiner Maske ist eine Schweineschnauze angedeutet. Abgesehen davon, dass man sich fragt, was ein Mossad-Agent überhaupt in Indonesien zu tun hätte, erinnert die Schweineschnauze an die aktuelle Debatte über Judensäue an und in deutschen Kirchen, einem Ausdruck des christlichen Antisemitismus, den Katholiken wie Protestanten gleichermaßen pflegten. Man ordnete den Juden just jenes Tier zu, dessen Fleisch in der jüdischen Religion tabu ist, was im Kontext des islamischen Indonesien jedoch absurd erscheint – im Islam gilt das Schwein ja ebenfalls als unrein. Noch klarer in einer antisemitischen Bildtradition Europas und insbesondere Deutschlands steht das Motiv eines an seinen Schläfenlocken erkennbaren orthodoxen Juden mit einer Nase wie aus dem Stürmer und einer Zigarre zwischen spitzen Zähnen, auf dessen Hut seltsam inkongruent SS-Runen zu sehen sind. Letzteres deutet auf das antisemitische Narrativ hin, die Juden seien selbst für den Holocaust verantwortlich. Neonazis schaffen es ja völlig schmerzfrei, gleichzeitig zu glauben, Hitler hätte nicht genug Juden umgebracht, der Holocaust hätte nicht stattgefunden und sei zudem ein Werk von Juden. Da das Bild in Kassel erst relativ spät aufgebaut worden war, war dies den Medienvertretern vor der Ausstellungseröffnung entgangen, aber man fragt sich auch, warum die antisemitische Symbolik 20 Jahre lang weltweit unbemerkt geblieben war. Vermutlich waren die meisten Betrachter von der verwirrenden Fülle der Details des Wimmelbilds erschlagen; erst wenn man es statt wie bei den Kinderbüchern der Wo ist Walter?-Reihe unter dem Aspekt „Wo ist der Antisemitismus?“ studiert, entdeckt man diese Motive.

Aber was steckt überhaupt dahinter? Taring Padi sieht sich selbst als fortschrittliches (sprich: linkes) Künstlerkollektiv, dessen Ziele „organisieren, bilden und agitieren“ es mit der „Flamme der Solidarität“ verfolgt; den Vorwurf des Antisemitismus weisen sie weit von sich. Man müsse das Bild im Kontext der indonesischen Gesellschaft und den gesellschaftlichen und politischen Umbrüchen seit 1998 sehen. Aber wie kommen da überhaupt Juden ins Spiel? In Indonesien, wo der Islam die dominierende Religion ist, gibt es unter rund 274 Millionen Bürgern insgesamt geschätzt 25 Juden. Nicht 25.000, 25 Millionen oder 25 Prozent, sondern tatsächlich nur 25 Bürger jüdischen Glaubens. Es ist daher äußerst unwahrscheinlich, dass ein typischer Indonesier jemals einem Juden begegnet ist – zumindest nicht in Indonesien.

Aber rassistische Stereotype und Vorurteile verbreiten sich schnell und weit. Auch das, was heutzutage oft als islamischer Antisemitismus in der arabischen Welt angesehen wird, ist ja weitgehend gar nicht religiös motiviert. Der Islam war insgesamt weniger judenfeindlich als das Christentum, und nachdem beispielsweise die spanischen Juden nach der Reconquista im 15. Jahrhundert aus ihrer Heimat vertrieben worden waren, fanden viele von ihnen im Osmanischen Reich Zuflucht, wo sie ihre Religion unbehindert ausüben konnten. Im Mittelalter wurden die Juden Jerusalems von christlichen Kreuzfahrern massakriert, nachdem die bis dahin dort herrschenden Muslime sie nicht mehr schützen konnten. Im 20. Jahrhundert fanden dann aber antisemitische Texte aus Europa im islamischen Raum weite Verbreitung; bis heute wird Hitlers Mein Kampf dort viel gelesen und seiner Hetze oft Glauben geschenkt. Insofern ist es nicht so verwunderlich, wenn in Indonesien, weit entfernt von Israel und anderen Zentren jüdischen Lebens, eine antisemitische Ikonographie aus Europa auftaucht. Allerdings wird es kaum den Ansprüchen an „fortschrittliche“ Künstler gerecht, wenn diese sich dumm stellen, behaupten, es nicht so gemeint zu haben, und lediglich die Wirkung bedauern – letztendlich sei dann wohl der jüdische Betrachter schuld, wenn er das missversteht. In der islamischen Welt taucht Antisemitismus meist im Kontext des israelisch-palästinensischen Konflikts auf, aber während dieser Konflikt ja widerstreitende Ansprüche auf dasselbe Land als reale Grundlage hat, haben die allermeisten Muslime überhaupt keinen Kontakt zu oder gar Streit mit Juden. Antisemitismus ist da eine kaum kritisch hinterfragte Attitüde, während man im Alltag keine Probleme mit Juden oder Israelis hat – und sei es nur, weil man keine kennt und keinen begegnet.

Die vom indonesischen Kollektiv runangrupa kuratierte documenta 15 will künstlerisch-aktivistische Sichtweisen aus dem globalen Süden präsentieren, und aus diesem Antrieb scheinen tatsächlich spannende Werke entstanden zu sein (ich werde erst in ein paar Wochen dazu kommen, sie mir selbst anzuschauen). Aber es wäre falsch, jetzt aus postkolonialistischer Scham (als „Weiße“ sind wir ja für das Elend der Welt des Südens in Erbsünde verantwortlich) alles unwidersprochen zu akzeptieren, das aus den ehemaligen Kolonien kommt. Es ist sicher so, dass wir von Indonesien, für mehr als drei Jahrhunderte eine niederländische Kolonie, bitter wenig wissen; dabei hat es mehr als dreimal so viele Einwohner wie Deutschland und mehr als die vierfache Fläche. Aber in Indonesien weiß man umgekehrt offenbar wenig über die europäische Geschichte, und bedient sich dennoch bei deren Stereotypen, selbst wenn man sie dazu aus der Jauchegrube fischen muss. Die Debattenreihe We need to talk!, die eigentlich auf die Antisemitismusvorwürfe im Vorfeld der documenta 15 eingehen sollte, wurde leider abgesagt, aber der Impuls dahinter ging in die richtige Richtung: Wir müssen reden!

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Michael J. Hußmann

Michael J. Hußmann gilt als führender Experte für die Technik von Kameras und Objektiven im deutschsprachigen Raum. Er hat Informatik und Linguistik studiert und für einige Jahre als Wissenschaftler im Bereich der Künstlichen Intelligenz gearbeitet.

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2 Kommentare

  1. Hallo Alle,
    wer Agitatoren zu einer Ausstellung einlädt muss sich nicht wundern, was dann präsentiert werden könnte. Das was dort von der Gruppe ruangrupa gezeigt wird hat wenig mit Kunst und mehr mit linker Agitation zu tun. Die Kuratoren, u.a. von zku-berlin, Herr Matthias Einhoff, „Künstler, Kurator, Forscher und Aktivist“ so auf der Website „Bundes Verband Sozio Kultur e.V.“, gefödert von der Bundesrepublik, ist auch Kurator von der Documenta und hat sich ruangrupa stark gemacht. Jetzt verstecken sich die wahren Kuratoren hinter ruangrupa, keiner will verantwortlich sein, s. Zeit-online-Artikel vom 22. Juni 2022.
    Mein Resümee: wer Agitation will, bekommt keine Kunst.

    1. Zustimmung: Nicht „der Weg ist das Ziel“, sondern „die Ziele bestimmen den/die Weg/e“! Wieviel Blindheit und Selbstüberschätzung muss man haben, um sich immer wieder als Auserwählte/Auserwählter der Kunst über die „Plebs“ zu erheben und die Geschichte mit der eigenen Arroganz zu treten? Die Toten mögen uns unser langes Schweigen dazu verzeihen.

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