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Zeichnen – digital?

Stellen Sie sich vor, es ginge nicht ums Zeichnen, sondern Sie kauften ein Buch mit dem Titel „Digitale Textverarbeitung für Autoren“ – und stellen beim Durchblättern fest, dass es über Hunderte Seiten tolle Tipps und Beispiele für eleganten Stil, Gliederungen, Aufbau von Texten und mehr bietet, auf digitale Textverarbeitung aber nur am Anfang mit ein paar Worten eingeht. Für den ganzen Rest ist es dann egal, ob Sie mit Schreibmaschine, Bleistift oder Computer arbeiten. Wäre das dann ein gutes oder ein schlechtes Buch, fragt sich Doc Baumann.

Zeichnen – digital?

Peter Hoffmann, der diesen Ratgeber geschrieben und illustriert hat, ist ohne jeden Zweifel ein hervorragender Zeichner, und man kann sich gut vorstellen, dass er an den Hochschulen, an denen er lehrt, auch ein guter Lehrer ist. Daher ist es umso schwerer verständlich, wie sich Autor und Verlag auf einen Buchtitel einigen konnten, der Kaufinteressierte in die Irre führt.

Nichts wäre an diesem Band auszusetzen, im Gegenteil hohes Lob zu verteilen, hieße es einfach „Zeichnen – Das umfassende Handbuch“, vielleicht noch mit einem Untertitel wie „Analoge Techniken und ein kleiner Abstecher zu digitalen Werkzeugen“. Aber zum einen ist nach dem Einstiegskapitel von Digitalem kaum noch die Rede, wenn überhaupt, und zum anderen werden die spezifischen Möglichkeiten digitalen Zeichnens, seine Vor- und Nachteile, nur am Rande gestreift.

So ist es etwa schwer zu erklären, warum der Verfasser Painter für Aquarelle empfiehlt, ohne das bei dieser Technik wesentlich bessere Rebell auch nur zu erwähnen, bei dem man sogar vorgeben kann, ob Farbe neigungsabhängig über das digitale Zeichenpapier laufen soll.

In der Einleitung schreibt Hoffmann: „Das Buch ist für Anfänger ebenso geeignet wie für Wiedereinsteigerinnen und fortgeschrittene Zeichner.“ (Sehen wir mal davon ab, welcher inhaltliche Unsinn sich aus diesem Bemühen um eine vorgeblich „geschlechtergerechte Sprache“ ergibt, denn nähme man den Satz wörtlich und ernst, blieben männliche Wiedereinsteiger ebenso ausgegrenzt wie Anfängerinnen und weibliche Fortgeschrittene.) Nach meinen eigenen didaktischen Erfahrungen gehen die Illustrationsbeispiele in den Einsteigerkapiteln allerdings über die Möglichkeiten von Anfängern hinaus.

Zeichnen – digital?

Diese Kritik hat nun aber mit digitalem oder manuellem Zeichnen nichts zu tun. Oder doch? Ein großer Vorzug digitalen Zeichnens, der auch von Profis gern arbeitsersparend eingesetzt wird, ist zum Beispiel die Möglichkeit des „Durchpausens“. Das hat man früher mit Transparentpapier gemacht oder auf einem Leuchttisch. In den vielen Programmen, die diese Möglichkeit unterstützten, lassen sich anders als beim herkömmlichen Arbeiten Deckkraft und Größe der Vorlage einstellen. (Nicht nur) in Photoshop etwa geht das ganz einfach mit Ebenen.

Nun kann man durchaus aus Prinzip sagen: Durchpausen sollten sich die Leute gar nicht erst angewöhnen; sie sollen lernen, zu schauen, zu beobachten, ein Gefühl für Proportionen, Formen, Verkürzungen und räumliche Staffelungen zu entwickeln, und wer immer nur Vorlagen abpaust und von Fotos abmalt, lernt das nie. Diese Prämisse kann man zwar in Zweifel ziehen, aber selbst, wenn man sie teilt, sollte man über diese erleichternde Vorgehensweise doch informieren. Die Kritik daran muss man ja nicht verschweigen. (Zumal, wenn es an anderer Stelle zutreffend heißt: „Auch jenseits von kommerziellen Abläufen spielt der Zeitfaktor beim digitalen Zeichnen eine Rolle.“)

Zeichnen – digital?

Wer lange auf traditionelle Weise gezeichnet und gemalt hat, kennt die Unterschiede zwischen den manuellen und den digitalen Techniken, ihre Vor- und Nachteile. Doch Hoffmann schreibt dazu nicht sehr viel mehr als:

„Die Anforderungen an Ihr technisches Know-how sind jedoch nicht allzu hoch. Im Gegenteil, ich habe Wert darauf gelegt, die digitalen Mittel so sparsam wie möglich einzusetzen, so wie das traditionelle Zeichnen ebenfalls nur Ressourcen in Form von Papier und Stift erfordert. Mit der Ebenen-Palette, den Pinseleinstellungen, dem Farbwähler und einfachen Werkzeugen wie Pinsel, Radierer und Verschieben-Tool lassen sich alle zeichnerischen Aufgaben bewältigen …“ Sehen wir von den zahlreichen grafischen Spezialwerkzeugen in Programmen wie Painter, ArtRage, Rebelle, Autodesk, Sketchbook, Procreate und anderen ab und bleiben nur bei Photoshop: Von den Möglichkeiten der Pinseleinstellungen habe ich – außer ihrer Erwähnung – ebenso wenig gefunden wie von denen der Ebenen und Ebenenmasken, oder von Widerrufen, Verblassen, Protokoll, Transformationen usw.

Wie eingangs erwähnt: In einem Buch zum Thema „Zeichnen“ wären das ergänzende Randbemerkungen, deren Fehlen niemand vermisste. Das kleine Wörtchen „Digitale“ jedoch erweckt andere Erwartungen, und die werden nicht erfüllt. So hätte ich zumindest einen Überblick über die angebotene Software erwartet und ihre jeweils besonderen Möglichkeiten, Vorzüge und Nachteile. Der Satz „Es ist auch nicht undenkbar, die Tutorials mit Fineliner oder Bleistift auf Papier durchzugehen“ klingt wie das verborgene Eingeständnis, dass „Digital“ lediglich aufgesetzt wurde, damit das Buch in die Verlagsreihe passt.

Zeichnen – digital?

Ein anderer Satz ist älteren Nutzern noch ähnlich im Gedächtnis, die die Zeit des Übergangs von analoger zu digitaler Fotografie erlebt und die damaligen Diskussionen nachvollzogen haben: „Die Unvollkommenheiten und Bearbeitungsspuren einer Originalzeichnung machen allerdings auch deren Wert aus, an den ausgedruckte Dateien nur oberflächlich heranreichen.“ Das hört sich an, als mache es einen guten Installateur aus, wenn der stark tropfende Wasserhahn nach der Reparatur nur noch ein bisschen tropft. Für normale Zwecke trauert heute niemand mehr den Unvollkommenheiten analoger Fotografie nach – und wer sie nostalgisch vermisst, kann längst auf Softwarefunktionen zurückgreifen, die Unvollkommenheit künstlich wieder hinzurechnen. Ganz abgesehen davon, dass der Vergleich nur dann fair wäre, wenn man eine im Druck wiedergegebene manuelle Zeichnung mit der einer digitalen vergliche.

Im Übrigen dürften die Gründe dafür, „dass viele Kunstschaffende trotz fast unbegrenzter digitaler Möglichkeiten regelmäßig zu Skizzenbuch oder Zeichenblock greifen“ nicht nur an der leichteren Verfügbarkeit von Bleistiften liegen, sondern auch daran, dass sich selbst auf direkt bearbeitbaren Monitoren die Stiftführung ganz anders anfühlt, wegen ihrer Glätte auch der Widerstand des Papiers fehlt. Insofern ist es durchaus sinnvoll und nachvollziehbar, Zeichnungen manuell anzufertigen und sie nach ihrer Digitalisierung als Basis weiterer Verfeinerung am Bildschirm zu verwenden. Aber so etwas muss erläutert werden.

Zeichnen – digital?

Das alles spricht natürlich keineswegs gegen traditionelle Zeichentechniken; es geht nur um die Unzulänglichkeiten dieses Buches, misst man es an seinem Titel. Lässt man diesen Aspekt des Digitalen einmal außen vor, so ist dies ein sowohl lehrreiches wie schönes Buch. Hoffmanns Zeichenstil, vor allem seine Schraffurtechniken, erinneren mich mitunter an die Werke des von mir sehr geschätzten Moebius (was ich keineswegs als Plagiatsvorwurf meine, sondern als hohe Wertschätzung grafischer Qualität). Als Randbemerkung: Meinen eigenen Bücher zu diesem Themenbereich, das erste war 1993 „DuMonts Handbuch: Digitale Mal- und Grafiktechniken“, könnte man den umgekehrten Vorwurf machen – ausführliches Vorstellen der Werkzeuge und ihrer Möglichkeiten, aber kein Wort über das Lernen von Zeichnen und Malen. Ich habe halt das eine bereits vorausgesetzt, Hoffmann wohl das andere.

So betrachtet ist dieses Buch unter dem Aspekt des Lernens von Zeichnen durchaus empfehlenswert – ja, es macht sogar dann Spaß, erfreut man sich lediglich an Hoffmanns Illustrationen (und erst dann, der Kalauer sei erlaubt, an seinen Erzählungen). Man sollte nur wissen, auf was man sich einlässt. Wer mehr über die Möglichkeiten digitaler Techniken erfahren möchte, wird enttäuscht sein – wer, mit Pigmenten oder Pixeln, seine Zeichenfertigkeiten erweitern möchte, wird dieses Lehrbuch zu schätzen wissen.

Peter Hoffmann
Digitales Zeichnen. Das umfassende Handbuch

Rheinwerk Verlag, 2023
Hardcover, gebunde, 319 Seiten mit vielen Abbildungen
€ 39,90

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Doc Baumann

Doc Baumann befasst sich vor allem mit Montagen (und ihrer Kritik) sowie mit der Entlarvung von Bildfälschungen, außerdem mit digitalen grafischen und malerischen Arbeitstechniken. Der in den Medien immer wieder als „Photoshop-Papst“ Titulierte widmet sich seit 1984 der digitalen Bildbearbeitung und schreibt seit 1988 darüber.

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4 Kommentare

  1. Danke für die Rezension!
    Ich bin bei „Hilfen“ zum Zeichnen lernen immer sehr kritisch, bevor ich sie empfehle. Dieses hätte ich vorurteilsbehaftet bereits aufgrund der Augen und des Mundes am Cover ausgeschlossen. Deshalb frage ich mich hier auch:
    Zeigt das Buch einen Weg zur richtigen Art zu sehen bzw denken und animiert das Buch zum „Zeichnen mit den Augen“? Gibt es Hilfen zum räumlichen Erfassen, damit man bspw. nicht bereits beim Zeichnen von Händen ins Stolpern gerät? Gibt das Buch Hinweise zum Objektivieren der eigenen Ergebnisse? Denn wenn man keine Lehrer hat, muss man seine Sackgassen und Schwächen ja selbst finden und korrigieren.

    1. Ja, das würde ich schon sagen, dass das Buch von Hoffmann den genannten Anforderungen entspricht. Nicht garantieren kann ich natürlich, dass mein Verständnis von „richtig“ mit Ihrem übereinstimmt. Genau genommen bezweifle ich sogar, dass es DEN richtigen Weg zu sehen und zu denken gibt. Was für den einen gut ist, mag für einen anderen nicht funktionieren. Mein Schwerpunkt der Lektüre lag aber auch eher auf der Berücksichtigung von „digital“, deren Mangel ich angemerkt habe.

      1. Vielen Dank für eure Antworten. Tatsächlich finde ich Betty Edwards‘ Buch ein gutes Beispiel, weil es dem Lernenden einen Ansatz bietet, vom Übersetzen des Gesehenen („falsches Sehen“, wenn man so will) abzukommen. Egal ob Vorlage oder die eigene Zeichnung.

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