Wie gefährlich ist der Duden?
In den letzten Tagen machte eine Petition des Vereins Deutsche Sprache (VDS) die Runde, mit der nichts weniger als die deutsche Sprache vor dem Duden gerettet werden soll. Klingt schräg? Dachte ich auch, aber einige meiner DOCMA-Kollegen haben die Petition unterschrieben. Ich nicht.
In DOCMA geht es um Bildbearbeitung und Fotografie, aber uns geht es immer auch um die deutsche Sprache. Es ist ja eine Sache, zu wissen, wie es geht, aber man muss das auch klar und verständlich ausdrücken können. Wenn wir unsere Artikel gegenseitig korrigieren, spielen Feinheiten des sprachlichen Ausdrucks eine große Rolle, denn die erste Formulierung, die man findet, ist längst nicht immer die beste. Wenn es um die Verteidigung der deutschen Sprache geht, sind wir also ganz vorne dabei. Die beste Verteidigung besteht darin, selbst mit gutem Beispiel voranzugehen, und als Inspiration empfehle ich den Klassiker von Judith Macheiner: „Das grammatische Varieté oder Die Kunst und das Vergnügen, deutsche Sätze zu bilden“, erschienen als Band 74 in „Die Andere Bibliothek“ im Eichborn Verlag (und aktuell leider vergriffen).
Der Duden – der Rechtschreibduden, das Duden Wörterbuch und all die anderen Bände, die im Dudenverlag erschienen sind – wirken vielleicht nicht ebenso inspirierend, aber sie sind eine wichtige Referenz in Zweifelsfragen, die wir ständig nutzen. Und dieser Instanz wirft der Verein Deutsche Sprache nun eine „problematische Zwangs-Sexualisierung“ vor. Klingt unanständig, aber was ist damit gemeint?
Die deutsche Sprache hat ja die Eigenheit, dass in ihr jedes Nomen einen Genus hat, ein grammatisches Geschlecht, selbst Wörter, die sich auf Unbelebtes oder jedenfalls Geschlechtsloses beziehen. Ausländer, die unsere Sprache zu lernen versuchen, verzweifeln oft daran, weil sie nicht verstehen, warum es „die Suppe“, „das Hauptgericht“ und „der Nachtisch“ heißt. Wenn wir aber von Menschen oder Tieren reden, die ja ein Geschlecht haben, müssen wir uns durch die Wortwahl zu einem Geschlecht bekennen, auch wenn wir eigentlich davon abstrahieren möchten. Für den Engländer hat beispielsweise „the customer“ kein bestimmtes Geschlecht, aber als Deutsche müssen wir uns zwischen „dem Kunden“ oder „der Kundin“ entscheiden. Es gibt aber auch so etwas wie ein „generisches Maskulinum“, wie man es seit rund 40 Jahren nennt: Die maskuline Form „der Kunde“ kann auch im geschlechtsneutralen Sinn von „der Kunde oder die Kundin“ gebraucht werden. In DOCMA können wir von „Photoshop-Anwendern“ sprechen und die Anwenderinnen damit nicht ausschließen. Allerdings ist das generische Maskulinum umstritten, und zwar schon fast so lange, wie es diesen Begriff im Deutschen überhaupt gibt. (Übrigens existiert auch ein generisches Femininum, nur ist es viel seltener und eher im Tierreich anzutreffen: Unter „zehn Katzen“ kann sich auch ein Kater befinden, unter „zehn Katern“ aber keine weibliche Katze.)

Befragt man kompetente Sprecher des Deutschen, dann akzeptieren sie eine Aussage wie „10 Kunden befanden sich im Laden, drei Männer und sieben Frauen“ als korrekten deutschen Satz. Das generische Maskulinum scheint also zu funktionieren. Bittet man sie aber, sich „einen Kunden“ vorzustellen, dann denken sie, wie Experimente zeigen, fast immer an einen Mann – im Zweifelsfall ist das generische Maskulinum doch ein bisschen mehr Maskulinum als generisch.
Viele Frauen haben sich schon daran gestört, in der deutschen Sprache weniger zu zählen. Neun männliche Kunden und eine Kundin bleiben „Kunden“, aber wenn sich zu neun Kundinnen ein Mann gesellt, werden sie damit ebenfalls zu zehn „Kunden“. Egal wie viele Frauen sich in einer Gruppe befinden – ein einziger Mann genügt, um das grammatische Geschlecht der ganzen Gruppe zu ändern, beliebig viele Frauen jedoch nicht.
Die Duden-Redaktion hatte bisher das generische Maskulinum akzeptiert. Es gibt einen Eintrag für den „Kunden“ und die „Kundin“, und während beim „Kunden“ das Geschlecht offen bleibt („jemand, der [regelmäßig] eine Ware kauft oder eine Dienstleistung in Anspruch nimmt“), wird als Bedeutung der „Kundin“ nur angeben, dass es die weibliche Form des „Kunden“ sei und für eine genauere Erklärung auf den Eintrag für diesen verwiesen.
Für „Kunde“ und „Kundin“ gilt das bis heute, aber die Einträge vieler anderer Wörter hat die Redaktion in der Online-Version des Duden überarbeitet. Der „Mieter“ beispielsweise ist nun kein generisches Maskulinum mehr, sondern „eine männliche Person, die etwas gemietet hat“ – die „Mieterin“ ist entsprechend „eine weibliche Person, die etwas gemietet hat“. Das hat den Vorteil, dass man den vollständigen Eintrag in jedem Fall sofort findet: „Wir haben sehr viel Kritik in den letzten Jahren dafür eingesteckt, dass wir bei den weiblichen Formen nur einen Verweis-Artikel dastehen haben“, wie Kathrin Kunkel-Razum, die Leiterin der Duden-Redaktion, gegenüber dem Deutschlandfunk Kultur erklärte. In Zuschriften an die Redaktion sei immer öfter eine Gleichstellung der Geschlechter im Online-Duden gefordert worden. Eine vollständige Abschaffung des generischen Maskulinums sei damit aber nicht beabsichtigt: „Selbstverständlich gibt es solche Formen, dass man sagt, ich gehe zum Bäcker, ich gehe zum Fleischer, oder ich gehe zum Arzt.“ Hier sei dann aber die Einrichtung und keine konkrete Person gemeint, also die Bäckerei, Fleischerei oder Arztpraxis. „Wenn wir über konkrete Personen sprechen, dann wird das generische Maskulinum zunehmend infrage gestellt.“ An der gedruckten Version des Duden ändert sich übrigens nichts, denn dann müsste er deutlich dicker werden.
Und was ist daran nun so bedrohlich, dass man die deutsche Sprache gegenüber der Duden-Redaktion in Schutz nehmen müsste? Der VDS fährt schweres Geschütz auf: „Damit widerspricht der Duden nicht nur den Regeln der deutschen Grammatik, sondern auch dem Bundesgerichtshof, der im März 2018 letztinstanzlich festgehalten hat, dass mit der Bezeichnung „der Kunde“ Menschen jeglichen Geschlechts angesprochen seien.“
Die Vorstellung, die Duden-Redaktion könnte in einem Konflikt mit dem Bundesgerichtshof stehen, ist freilich absurd. Der Gesetzgeber hat die deutsche Sprache nicht reglementiert: Jeder, ob Deutscher oder Ausländer, kann sie so verwenden, wie er oder sie es für richtig hält – ist allerdings auch selbst dafür verantwortlich, sich verständlich zu äußern. Entsprechend kann man die Bedeutung von Wörtern auch nicht vor Gerichten einklagen. Allein die Rechtschreibung, die an Schulen gelehrt und von Behörden verwendet wird, ist in Erlassen der Bundesländer festgelegt, zuletzt durch die Rechtschreibreform von 1996. Außerhalb der Schulen sind diese Regeln rechtlich unverbindlich.
Der Bundesgerichtshof, auf dessen Urteil sich der VDS beruft, hat auch nichts dergleichen behauptet – ganz im Gegenteil. Die Klägerin in diesem Fall hatte sich mit der Formulierung „der Kunde“ in einem Schreiben ihrer Sparkasse nicht angesprochen gefühlt und wollte die Sparkasse zwingen, auch die weibliche Form zu verwenden. Das Gericht hat nicht entschieden, dass man ein generisches Maskulinum verwenden müsse, sondern dass niemand daran gehindert werden kann, es zu tun.
Aber wenn das Recht schon nicht reicht, die Duden-Redaktion in die Schranken zu weisen, dann vielleicht die Tradition: Der Duden betreibe „eine problematische Zwangs-Sexualisierung, die in der deutschen Sprache so nicht vorgesehen ist.“ Aber was sollte es denn sein, das in der deutschen Sprache vorgesehen wäre? Und wer sollte es sein, der da etwas vorgesehen hätte? Natürliche Sprachen haben ja keinen Erfinder, der eine feste Vorstellung davon gehabt hätte, wie ein Wort oder eine grammatische Konstruktion zu gebrauchen wäre. Und gäbe es einen Erfinder des Deutschen, dann spräche er Althochdeutsch und würde über unser Deutsch nur den Kopf schütteln – er könnte es nicht mehr verstehen.
Wie etwas vorgesehen ist, ergibt sich aus dem Sprachgebrauch, und dieser verändert sich stetig. Daher ist die Tradition keine Instanz, die hier mitzureden hätte. Es ist ja nicht einmal eine uralte Tradition, die das generische Maskulinum für sich beanspruchen könnte. Tatsächlich ist es nur dadurch entstanden, dass sich die Welt verändert hat, die Sprache jedoch (zunächst) nicht. Wenn die meisten Berufsbezeichnungen in ihrer Grundform ein Maskulinum sind, dann geht das darauf zurück, dass beispielsweise Schmiede, Ärzte und Bürgermeister für viele Jahrhunderte eben stets Männer waren. Weibliche Bezeichnungen wie „Krankenschwester“, „Hebamme“ oder „Hausfrau“ gab es nur für Tätigkeiten, für die man lange Zeit allein Frauen zuständig hielt. (Es gab zwar auch schon früher einen „Hausmann“ – mein Nachname „Hußmann“ ist dessen niederdeutsche Version –, aber damit war keine männliche Hausfrau gemeint, sondern ein Bauer, der Besitzer des Hofes war, den er bewirtschaftete, also kein bloßer Pächter.)
In den letzten hundert Jahren haben sich Frauen den Zugang zu vielen einst Männern vorbehaltenen Berufen erkämpft, aber bei der maskulinen Grundform der Berufsbezeichnung ist es geblieben. Es kam lediglich eine durch „-in“ gebildete weibliche Form hinzu, und wenn man sich nicht auf ein Geschlecht festlegen wollte, griff man weiter auf die maskuline Grundform zurück. Das generische Maskulinum entstand, weil sich die Gesellschaft weiterentwickelte, die Sprache aber nicht, oder nicht in gleichem Maße.
So etwas ist nicht ungewöhnlich. Die Bürgerschaft, das Parlament meiner Stadt (Hamburg), wird beispielsweise von deren Bürgern gewählt – das ist seit vielen Jahrhunderten so. Für die längste Zeit verstand man unter „Bürger“ aber nicht jeden, der in Hamburg seinen festen Wohnsitz hatte, sondern nur Männer, die über Grundbesitz verfügten, der evangelisch-protestantischen Konfession angehörten und nicht adelig waren – insgesamt vielleicht 5 Prozent aller Hamburger. Die Bedeutung von „Bürger“ ist heute eine fundamental andere, aber das Wort blieb dasselbe.
Das generische Maskulinum ist, wie gesagt, nicht unumstritten – ganz im Gegenteil. Konstruktionen wie das Gendersternchen (auch in der gesprochenen Sprache als sogenannter Glottisschlag wie in „Beamter“), die das generische Maskulinum ersetzen sollen, werden bereits von einigen deutschen Behörden und in immer mehr Medien verwendet. Ob sich solche Bestrebungen durchsetzen werden, weiß man natürlich nicht. Hier setzt nun die einzige Überlegung des VDS an, die tatsächlich ernst zu nehmen ist: „der Duden [sei] auf dem Weg, seine Rolle als Standard-Referenzwerk für das Deutsche aufzugeben. Indem er Sprache nicht mehr nur widerspiegelt, sondern sie aktiv verändert, widerspricht er seinen eigenen Grundsätzen.“ Der Duden sollte die Regeln der deutschen Sprache bloß beschreiben und nicht eigenmächtig festlegen. Aber die Sache ist ein bisschen komplizierter.
Die Sprachwissenschaft sollte rein deskriptiv arbeiten: Linguisten erforschen, wie Sprecher des Deutschen tatsächlich reden und schreiben, ohne dabei zu werten. Für den Duden galt das nie so uneingeschränkt. Das Deutsche zerfällt ja in viele Dialekte und Soziolekte, und dem Duden als Standardwerk wäre kaum damit gedient, wenn darin jede irgendwo und von irgendjemandem gebrauchte Form aufgenommen würde. Österreichische und Schweizer Begriffe sowie manche Wörter der Umgangssprache werden zwar berücksichtigt, aber grundsätzlich orientiert sich die Duden-Redaktion an der deutschen Hochsprache. Gegen ein rein deskriptives Vorgehen hat sich der Duden auch bei der Rechtschreibreform entschieden: Statt abzuwarten, ob und inwieweit die Deutschen diese Reform für sich akzeptieren würden, wurden auf einen Schlag alle durch die Reform geänderten Schreibweisen aufgenommen. Dort, wo die Erlasse Wahlmöglichkeiten ließen, optierte die Duden-Redaktion durchaus eigenmächtig bisweilen für die althergebrachte Schreibweise.
Es ist keineswegs ungewöhnlich, dass sich die Duden-Redaktion in gesellschaftlichen Debatten, die die deutsche Sprache betreffen, auf eine Seite stellt, statt jahrelang auf ein eindeutiges Resultat zu warten. Das kann man durchaus kritisieren, und es wird auch immer wieder mal kritisiert, aber hier muss man keine Gefahr für die deutsche Sprache befürchten. Wer weiß, vielleicht steht die Duden-Redaktion ja am Ende auf der Gewinnerseite, aber wie sich unsere Sprache entwickelt, bestimmen wir selbst, nicht der Staat und auch nicht der Duden. Die neun selbsternannten „Bestsellerautoren“, die die Petition des VDS unterzeichnet haben, könnten die deutsche Sprache viel eher durch ihre Bestseller als mit ihrer Unterschrift in die gewünschte Richtung lenken. (Ich finde es ja etwas peinlich, seinen Beruf als „Bestsellerautor“ anzugeben – wer es wirklich ist, muss das nicht betonen.)
Das gilt entsprechend auch für uns Nicht-Bestsellerautoren. Wie gesagt: Wer der deutschen Sprache etwas Gutes tun will, sollte mit gutem Beispiel vorangehen, was immer man darunter versteht. Das reicht schon.