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Sogenanntitis?

Wenn etwas so genannt wird, kann man es dann nicht einfach so nennen? Warum sollte man noch ein „sogenannt“ davor setzen? Als DOCMA-Redakteur schlage ich mich naturgemäß auch mit den Feinheiten der deutschen Sprache herum, und nun muss ich mich neuerdings fragen, ob ich nicht vielleicht an der sogenannten Sogenanntitis leide …

Der Duden kennt „sogenannt“, aber keine Sogenanntitis – gibt es sie überhaupt?
Der Duden kennt „sogenannt“, aber keine Sogenanntitis – gibt es sie überhaupt? (Quelle: www.duden.de/rechtschreibung/sogenannt)

In diesem Blog können Sie lesen, wie ich schreibe, wenn mich niemand korrigiert. Glücklicherweise geht das meist gut. Bei der DOCMA legen wir großen Wert auf eine klare, verständliche Sprache, und so sieht jeder Redakteur noch einmal die Beiträge der Kollegen und der freien Autoren durch, bevor unsere Artikel in die Schlusskorrektur gehen, wo noch einmal zwei mit allen Feinheiten des Deutschen vertraute Redakteure möglicherweise verbliebene Fehler aufspüren. Auch wenn es keine Garantie dafür gibt, dass uns nicht doch einmal ein Fehler durchschlüpft, ist diese mehrstufige Korrektur recht wirksam.

Dabei geht es nicht allein um Rechtschreibung, Interpunktion und Grammatik. Mindestens ebenso wichtig ist, dass unsere Texte für alle Leser und Leserinnen verständlich sind. Jeder von uns hat einen anderen Bildungsweg durchlaufen, wir haben jenseits der typischen DOCMA-Themen unterschiedliche Interessen, und nicht zuletzt sind wir in unterschiedlichen Jahrzehnten geboren. Daher passiert es nicht selten, dass jemand einen ihm geläufigen Begriff verwendet, der einem der anderen überhaupt nichts sagt. Dann sollte man besser eine andere Formulierung finden, denn es besteht die Gefahr, dass uns auch einige Leser nicht verstehen werden. Es ist ja nicht der Sinn unserer Arbeit, dass jeder nur für seinesgleichen schreibt.

Auch die Kollegen der Süddeutschen Zeitung sind sehr selbstkritisch, was die Sprache ihrer Texte betrifft. In der SZ gibt es sogar eine spezielle Kolumne, das „Sprachlabor“, in der ein Redakteur auf solche Zuschriften der Leser antwortet, in denen es weniger um den Inhalt als um die sprachliche Form der Artikel geht. Jüngst beschwerte sich ein SZ-Leser über die unangebrachte Verwendung von „sogenannt“, die er als „Sogenanntitis“ geißelte. Als Beispiele nannte er „sogenannte vertikale Absprachen“, „der sogenannte Soldatenkaiser“ und (nicht aus der SZ) „Zwischen Signing und Closing befinden wir uns in der sogenannten Quiet Period.“ SZ-Redakteur Hermann Unterstöger gab dem Leser Recht; wenn etwas nun mal so heißt, dann sollte man es auch so nennen – ohne ein distanzierendes „sogenannt“.

Auch laut Duden kann „sogenannt“ in unterschiedlicher Funktion und mit unterschiedlicher Bedeutung verwendet werden.
Auch laut Duden kann „sogenannt“ in unterschiedlicher Funktion und mit unterschiedlicher Bedeutung verwendet werden. (Quelle: www.duden.de/rechtschreibung/sogenannt)

Bei der Erwähnung einer „Sogenanntitis“ fühlte ich mich gleich angesprochen. In meinen DOCMA-Artikeln verwende ich „sogenannt“ vielleicht nicht exzessiv, aber auch nicht eben selten. Muss ich mich ertappt fühlen? Ich glaube nicht, und ich habe einen guten Grund dafür. Mit „sogenannt“ kann man zwar eine Distanzierung ausdrücken – etwa wenn ich schreibe, dass „vor einem Flüchtlingsheim sogenannte besorgte Bürger demonstrieren“, und damit andeute, dass „besorgte Bürger“ eine beschönigende Umschreibung für „ein ausländerfeindlicher Mob“ ist. Dies ist aber nicht die einzige Funktion von „sogenannt“. Lassen Sie mich dazu etwas weiter ausholen.

Von der weit überwiegenden Mehrzahl der Begriffe, die wir verwenden, nehmen wir an, dass sie unseren Lesern vertraut sind. Die oben beschriebenen Korrekturrunden zielen darauf ab. Allerdings kommt es auch vor, dass es in einem Artikel um einen bestimmten Begriff geht, der darin überhaupt erst erklärt wird. Das geht natürlich auch in Ordnung; es kommt nur darauf an, dass die Erklärung verständlich ist. Und dann gibt es noch eine dritte Kategorie von Begriffen – solche, von denen wir nicht sicher sind, dass die Leser sie kennen, die aber auch keiner ausführlichen Erklärung bedürfen. Beispielsweise könnte ich in einem Text über Kameras „den Abstand zwischen Bajonett und Sensor, das sogenannte Auflagemaß“ erwähnen: Ich rechne nicht damit, dass jeder den Begriff „Auflagemaß“ kennt, aber schließlich wird er im Satz selbst erklärt. Ich könnte noch mehr dazu schreiben, aber die hier beiläufig gegebene Erklärung „der Abstand zwischen Bajonett und Sensor“ reicht aus, das Folgende zu verstehen. Das eingeschobene „sogenannt“ zeigt nun an, dass der Begriff an eben dieser Stelle eingeführt wird und alles zum Verständnis Nötige gesagt ist. Als Leser brauchen Sie sich nicht zu fragen, ob Sie den Begriff kennen müssten, und Sie brauchen auch nicht im Text zurück zu gehen – für den Fall, dass ich den Begriff vorher erklärt und Sie das nur überlesen hätten. Das „sogenannt“ gibt Ihnen die Sicherheit, dass Sie beruhigt weiterlesen können.

Wenn ich mal eine langweilige Anekdote aus meiner Jugend erzählen darf: Irgendwann Ende der 70er Jahre kaufte ich mir wie jeden Monat den „Musikexpress“ und stellte verwundert fest, dass plötzlich in jedem zweiten Artikel von „New Wave“ die Rede war. Was war das, was hatte ich verpasst? Einige der im vorigen Monat noch unter „Punk“ geführten Bands gehörten nun zur New Wave, während andere immer noch Punk Rock machten. Ich hatte in der Tat etwas verpasst, nämlich die Einführung dieses Begriffs in der englischsprachigen Presse, aber das hätte man mir als Leser ja auch erklären können. Mit dem kleinen, unscheinbaren „sogenannt“ stellen wir klar, dass Sie als Leser nicht mit unbekannten Begriffen überfahren werden sollen. „Was, das sagt Ihnen nichts?!“ ist nicht unser Stil.

Michael J. Hußmann
Michael J. Hußmann
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Michael J. Hußmann

Michael J. Hußmann gilt als führender Experte für die Technik von Kameras und Objektiven im deutschsprachigen Raum. Er hat Informatik und Linguistik studiert und für einige Jahre als Wissenschaftler im Bereich der Künstlichen Intelligenz gearbeitet.

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3 Kommentare

  1. Lohnt es sich, Herr Hußmann, hier eine m.E. höchst angebrchte (keine Sorge: dennoch sehr freundliche und taktvolle!) Entgegnung auf Ihre Benerkung

    „… dass „vor einem Flüchtlingsheim sogenannte besorgte Bürger demonstrieren“, und damit andeute, dass „besorgte Bürger“ eine beschönigende Umschreibung für „ein ausländerfeindlicher Mob“ ist…. “

    zu verfassen? Oder fällt die dann ohnein Ihrer Zebsur zum Opfer und wäre somit so genammt „vor die Säue geworfen“? (Ich hege allergrößte Hochachtung vor Schweinen, damit kein Missverständnis aufkommt!).

    1. Sorry… die hochschwappenden Emotionen ließen mich vergessen, vor dem Absenden ein Orto… Ohrto… Orthogravie… ach, Rächtschreibprogramm halt anzuwenden.

      Aber Rechtschreibung ist eh rechtsradikal. Die deutsche Sprache ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Nur für so genanntes Pack.

      Kein Fehler ist illegal.

  2. Lohnt es sich, Herr Hußmann, hier eine m.E. höchst angebrachte (keine Sorge: dennoch sehr freundliche und taktvolle!) Entgegnung auf Ihre Bemerkung

    „… dass „vor einem Flüchtlingsheim sogenannte besorgte Bürger demonstrieren“, und damit andeute, dass „besorgte Bürger“ eine beschönigende Umschreibung für „ein ausländerfeindlicher Mob“ ist…. “

    zu verfassen? Oder fällt die dann ohnehin Ihrer Zensur zum Opfer und wäre somit so genannt „vor die Säue geworfen“? (Ich hege allergrößte Hochachtung vor Schweinen, damit kein Missverständnis aufkommt!).

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