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Sein? Schein? Inszenierung!

Nur noch ein paar Tage, dann ist Einsendeschluss beim DOCMA-Award 2014. Für alle, die bisher noch keine Arbeiten eingereicht haben, gibt es zum Endspurt noch ein wenig Anregung zum Thema.

Beim DOCMA-Award 2014 geht es um Rollenbilder. Das sind in der Regel Porträts doch sie lassen sie den Betrachter nur einen Aspekt der Persönlichkeit sehen, der irgendwo zwischen der Realität und einer Wunschvorstellung liegt.
Das Foto eines Menschen zeigt immer nur einen Bruchteil seiner Identität. Als Fotograf ist man gehalten, möglichst viel zu erfassen, aber es gelingt nie, alle Facetten des Menschen in ein Bild zu zwingen. Immerhin: Die großen dieses Fachs schaffen es, wesentliche Persönlichkeitsaspekte ins Bild zu setzen. Dennoch entstehen durch diese Begrenztheit Chancen für interessante Bilder, denn ­gerade, weil immer nur ein Moment eingefangen werden kann, lässt sich dieser vergleichsweise leicht inszenieren.
Für die meisten Modelle ebenso wie für ihre Fotografen erweist sich das Spiel mit der Wirklichkeit und der Wunschvorstellung als kreatives Spannungsfeld. Es gibt Fälle, da sind diese Ebenen klar getrennt. Ich erinnere hier an die Reportage im letzten Heft über das postapokalyptische Live-Rollenspiel (DOCMA 55, ab Seite 84, Lookbooks hier). In solchen Situationen trifft der Fotograf Menschen, die ihr Alltagsleben am Einlass abgegeben haben und sich danach verkleidet in einer Kunstwelt bewegen, in der sie ihren Charakter selbst neu erfinden.
Die Vermischung der Ebenen von Wunsch und Wirklichkeit ist dagegen der Normalfall: Wenn ich jemanden fotografiere, möchte er meist ein bestimmtes Image von sich vermitteln. Welches genau das ist, hängt davon ab, wofür die ­Bilder gebraucht werden. Auf einem Fami­lienfoto sind andere Merkmale gefragt als auf einem Bewerbungsbild, einem Strip-Kalender oder auf einem Foto zur Selbstdarstellung für Facebook. Ein Soziologe würde das, was diese Bilder des gleichen Menschen voneinander unterscheidet, mit einer wechselnden „sozialen Position“ bezeichnen. Die soziale Position definiert einen Ort in einem Netz von sozialen Beziehungen. Jedes Individuum kann stets mehrere Positionen einnehmen.
Praktisch könnte das so aussehen: Eine junge Frau ist in der Familie eine Tochter, im Berufsleben Sachbearbeiterin, für den Freund ist sie die Geliebte, und wenn er nicht da ist, wird sie zum Partyluder. Im Verein spielt sie beim Frauenfussball rechtsaußen und politisch engagiert sie sich bei den Linken.
Die Summe der Rollen, in die uns unterschiedliche soziale Positionen bringen, ist unsere Identität. Aber was sind nun alles soziale Rollen? Noch bis vor ein paar Jahrzehnten war die Zahl der Rollen recht übersichtlich: Man hatte sie in der Familie, im Beruf, im Ehrenamt (Verein, Kirchengemeinde, Partei) und in einer individuellen Freizeitbeschäftigung wie etwa dem Briefmarkensammeln. Die Wohlhabenden besaßen aufgrund ihrer Konsumgewohnheiten weitere Rollen wie die des Autofahrers, des Geschäftsreisenden oder des Golfspielers.
Heute können wir uns vor sozialen Rollen kaum noch retten, denn alle Lebensbereiche sind ausdifferenziert und werden auch so wahrgenommen. Lassen wir Familie, Beruf und Ehrenamt beiseite und konzentrieren uns auf die Rollen in der Freizeit und beim Konsum. Die Konsumrollen sind von der Typologie „Autofahrer“ fast vollständig ins Markenbewußtsein übergetreten. Wir verstehen uns als VW-Fahrer, Aldi-Käufer, Apple-Jünger, Nikon-Fotografen, Photoshop-User oder DOCMAtiker. Die Rollen sind vielfältig, stehen aber meist nicht im Widerstreit miteinander, sondern ergänzen sich. Man kann einen Porsche fahren und Neuland-Fleisch essen, sich bei Ikea einrichten und Bench-Jacken tragen. Normalerweise führt das nicht zu Konflikten bei der Bildung einer Identität.
Psychisch schwieriger zu handhaben sind die vielfältigen Freizeit-und Habitus-Rollen, ganz besonders, wenn sie nicht mit den anderen Lebensrollen in Beruf und Familie harmonieren. Alleinlebende Harz IV-Empfänger, die in Online-Games als große Krieger Armeen anführen, sind typische Beispiele. Ebenso alltäglich wie Manager, die ihre knappe Freizeit bei Dominas verbringen. Nur sprechen Letztere meist nicht darüber. Wer sich einen Überblick über die Mannigfaltigkeit disfunktionaler Rollenkombinationen verschaffen will, dem sei eine ausgiebige Dosis Nachmittags­fernsehen empfohlen.
Denkanstöße für Rollenbild-Projekte, die man beim DOCMA-Award 2014 einreichen könnte, finden sich fast überall im öffentlichen Leben: Die A-, B-, C- und D-Prominenz der Medien eignet sich hierfür ausnahmslos als Vorbild – ebenso wie Charaktere in Filmen und in Büchern oder die Models in den Arbeiten bekannter Fotografen. Viele Modelle spielen vor der Kamera gerne mit den Facetten ihrer Persönlichkeit, die sie im richtigen Leben so nicht ausleben möchtenoder können. Für den Bildermacher ist es oftmals gleichermaßen Herausforderung und Fingerübung, einen ­Menschen zu inszenieren und in verschiedene Rollen schlüpfen zu lassen. Die Ausgestaltung der Rollen hängt mit dem eigenen Anspruch und mit der Arbeitsweise zusammen: Schon ein einzelnes Accessoire kann eine Rolle und die damit ­verbundenen ­Verhaltensnormen repräsentieren. Man hat als Gestalter aber auch die Option, mehr Register zu ziehen und die passende Umgebung, weitere Mit-Rollenspieler und vielfältige Untermalungen der Rollendefinition ins Spiel bringen. Stockmaterial aus Bilddatenbanken in Kombination mit Montage- und CGI-Techniken sprengen bei opulenten Inszenierungen endgültig die Beschränkungen der Realität.
In der Jurysitzung wird es mehrere Aspekte zur Bewertung der Arbeiten geben. Im Vordergrund stehen die Bildidee und ihre Umsetzung. Der Betrachter muss unmittelbar eine Vorstellung von der inszenierten Rolle bekommen. Dabei ist es unerheblich, ob viel oder wenig Aufwand betrieben wird.Im Idealfall transportiert das Bild die Botschaft in einer Form, die den Betrachter berührt, Gefühle auslöst, ihn zum Lachen bringt oder zum ­Nachdenken anregt. Nach dem Bildinhalt geht es um die Form: Wer auf unbearbeitete Fotos setzt, sollte mit Licht umgehen können. Kreative Raw-Entwicklungen sind ebenso legitim wie komplexe Retuschen, Fotomontagen oder die Inte­gration von 3D-Elementen. Wichtig ist, dass die Arbeiten handwerklich sorgfältig ausgeführt sind.
Einsendeschluss ist der 30. März. Mehr Infos gibt es auf der Webseite vom DOCMA-Award.

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Christoph Künne

Christoph Künne ist Mitbegründer, Chefredakteur und Verleger der DOCMA. Der studierte Kulturwissenschaftler fotografiert leidenschaftlich gerne Porträts und arbeitet seit 1991 mit Photoshop.

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