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Kleinigkeiten mit Model-Maßen

Der Fotograf Frank Kunert nimmt seit Jahren seltsame, unbelebte Szenen von Innenräumen und Architektur auf. Bei näherem Hinschauen stellt man fest: Da stimmt etwas nicht; so etwas baut doch niemand. Doch, Kunert baut es, im Miniaturformat. Perfekt realistisch und mit – oft schwarzem – Humor. Doc Baumann ist begeistert – und fragt sich, warum er dafür nicht digitale Montagetechniken nutzt.

Frank Kunert: Kleinigkeiten mit Model-Maßen
Frank Kunert | Zimmer mit Aussicht

Der kleine Bildband „Carpe Diem“ ist inzwischen der vierte des Fotografen Frank Kunert mit menschenleeren Szenen, deren verbindende Gemeinsamkeit darin besteht, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Nicht-Stimmendes gibt es ja nicht nur bei phantastischen Bildinhalten, die etwas zeigen, das in der Realität gar nicht möglich wäre. (Leider zeigt uns die Welt immer wieder und in zunehmendem Maße, das durchaus möglich ist, was uns bislang als unmöglich erschienen ist.) Nicht-Stimmendes gibt es überall tatsächlich.

Nicht Stimmendes ist daher nicht unmöglich, sondern nur völlig unerwartet und quer zu unseren Erwartungen an die Realität. Für vieles, das wir mit Hilfe digitaler Bildbearbeitung montieren, kann es keine reale Entsprechung geben, beispielsweise, weil das Gezeigte den Naturgesetzen zuwider läuft. Kunert montiert aber nicht digital, sondern real. Soll heißen, er baut die Welten, die er uns vorführt, als Modelle im kleinen Stil detailgetrau nach und fotografiert sie dann. (Er könnte sie mit sehr mehr Aufwand auch im Maßstab 1:1 bauen, wie ein Filmset, also quasi benutzbar. Nur darin leben möchte man eher nicht.)

Nehmen wir als Beispiel das Titelmotiv seines neuen Buches, „Zimmer mit Aussicht“ (Bild oben). Es zeigt genau das, was sein Titel verspricht: Einen Innenraum mit riesigem Panoramafenster, offenbar recht hoch gelegen, denn draußen erkennbar ist nur der Himmel mit einigen Wolken, weit über dem Horizont. Die spartanische Einrichtung ist ganz auf diese Aussicht ausgerichtet, Schrank, Gemälde, großer Teppich. Bildbeherrschend ein extrem langes Sitzmöbel, auf dem man bequem nur Platz nehmen und sich anlehnen kann, wenn man aus diesem Fenster hinausschaut. Darauf eine zusammengefaltete Decke, davor ein Tablett mit zwei Büchern, einer Weinflasche und einem halb gefüllten Weinglas.

Merkwürdig wird’s dann am unteren Ende der Chaiselongue, denn dort erkennt man ein langes Brett, das hinaus in den Himmel ragt. Nun fällt auf, dass bei allem Realismus der Szene jede Andeutung einer Reflexion in der riesigen Fensterscheibe fehlt. Denn die gibt es offenbar gar nicht, da ist nur die große Öffnung in der Wand, die Beine des Möbels stehen direkt am Abgrund, und das seltsame Brett ragt weit in diesen hinein ins Leere. Es ist, nun wird es klar, ein Sprungbrett.

Das baut man ja nur ein, wenn man es benutzen will. Der ganze Raum gewinnt damit eine neue Bedeutung. Man kann das Möbelstück zwar durchaus zum Sitzen und Entspannen verwenden, sich die Decke wärmend über die Knie ziehen, in Ruhe ein Buch lesen und dazu einen Wein trinken. Aber es wurde gezielt am Rande des Abgrunds platziert, seine Länge exakt so austariert, dass sein Gewicht das Brett und jemanden, der darauf balanciert, im Gleichgewicht hält. Man hält sich an diesem äußeren Ende nicht auf, um die Aussicht zu verbessern. Man geht hinaus, um zu springen. Alles im Zimmer ist darauf ausgerichtet. Das Weinglas war in der Sicht seines Benutzers wohl nicht halb voll, sondern halb leer. Adé!

Dieses Grundprinzip (schwarz)humoriger Seltsamkeit zieht sich durch alle Bilder Kunerts. Ließe man den Humorfaktor fort, wären die Fotos eigentlich eine perfekte Umsetzung dessen, was neuzeitlichen Horror von der romantischen, gotischen Schauererzählung unterscheidet: das Grauen, das aus den Ritzen des Alltagslebens hervorkriecht. Der Schrecken nicht des Außergewöhnlichen, sondern gerade des gewöhnlich, geradezu spießbürgerlich Alltäglichen. Und dennoch eben nicht nur der Schrecken, sondern der Schalk, der einem trotz allem ein versöhnliches Lächeln entlockt.

Frank Kunert: Kleinigkeiten mit Model-Maßen
Frank Kunert | Der rote Teppich

Da ist etwa jener pompöse Eingang mit ausgerolltem Teppich … der allerdings drei Meter über dem Boden liegt. Der Warteraum mit Bänken … ohne Boden, nur mit dem Blick auf Wolken, von oben gesehen. Die kärgliche Wohnung mit altertümlichem Gitter-Kinderbettchen … darüber ein dickes, verrostetes Rohr, das durch die Decke zum Schornstein führt, für den Abwurf des erwarteten Babys vorbereitet.

Besonders erschreckend ist die Geschichte, die sich im Kopf ausbreitet, betrachtet man das Bild „Hoppe, hoppe, Reiter“: Auf einer Dachterrasse ist liebevoll für den Nachwuchs ein Sandkasten angelegt, daneben wartet einsam ein Schaukelpferd. Freilich keines, wie man es kennt, sondern ein ausgesprochen langbeiniges; erreichen lässt sich der Sattel nur über 13 Sprossen, die die Beine wie eine Leiter verbinden.

Frank Kunert: Kleinigkeiten mit Model-Maßen
Frank Kunert | Hoppe, hoppe, Reiter

Klar ist bei dem heiklen Schwerpunkt des Geräts und seiner Ausrichtung zum tiefen Geländer hin – auch hier wieder wartet der Abgrund –, dass über den Verbleib des Kindes nicht lange spekuliert werden muss. Für diese Erkenntnis bedarf es nicht einmal der zweiten Zeile des Kinderliedes: „Wenn er fällt, dann schreit er …“. Es muss ein recht langer Schrei gewesen sein. Wer das Pferdchen in seiner Werkstatt gezimmert hat, wusste, was er tat.

Es bedarf also einer gewissen Gestimmtheit und Aufnahmebereitschaft, sich auf Kunerts Bilder einzulassen. Wer nur den Schrecken sieht ohne seine humorvolle Brechung, mag sich abwenden – wer nur auf die witzige Pointe achtet, liegt gleichermaßen daneben. Mit hat’s gefallen. Dieses Buch ebenso wie die vorausgegangenen („Wunderland“, „Verkehrte Welt“, „Lifestyle“.)

Unsereinem stellt sich nun natürlich hinsichtlich des Entstehungsprozesses unvermeidlich die Frage: Warum tut sich der Mann das an? Im Zeitalter von Photoshop & Co. liegt die Frage sehr nahe, warum einer wochen- und monatelang in der Werkstatt sägt und spachtelt, schleift und hämmert, klebt, pinselt und streut … statt mit dem Fotoapparat in die Welt hinaus zu ziehen oder auch Bilddatenbanken zu bemühen, Passendes im Studio aufzunehmen, vielleicht noch Außergewöhnliches mit 3D-Unterstützung zu bauen, um dann das gesammelte Bildmaterial zu einer schönen, einheitlichen Szene zusammenzufügen. Schneller, billiger, realistischer.

Oder nicht?

So weit ich es herausfinden konnte, äußert sich Kunert dazu nur knapp an einer Stelle, im Einleitungstext von „Verkehrte Welt“, wo er schreibt: „Am Anfang hat mich geärgert, dass zum Beispiel die Briefkastenklappen nicht ganz echt aussehen. Aber durch eine Bearbeitung am Computer würden die Fotos auch nicht echter wirken, sondern nur auf eine andere Art unecht. Je mehr wir unser Leben digitalisieren, desto größer wird unsere Sehnsucht nach der greifbaren Wirklichkeit, nach sinnlichen Erfahrungen.“

Ist das so? Wer ist „wir“? Ich habe eher den Eindruck, dass der Anteil der Menschen, die lieber auf die Weather-App ihres Handys schauen als aus dem Fenster, um zu erfahren, wie das Wetter ist, eher steigt. Die sich lieber an der roten Ampel überfahren lassen, als den Blick vom kleinen Monitor zu heben. Die bei einem Zusammenbruch der Netze, wegen Stromausfalls oder in Folge von technischem Versagen oder Sabotage, ohne die Krücke ihres Handys nicht mehr wissen werden, was sie als Nächstes tun und wohin sie ihre nächsten Schritte wenden sollen.

Doch angenommen, damit hätte er recht (was mir sehr lieb wäre). Stimmt der erste Teil seiner Aussage? Würde die digital bearbeitete Briefkastenklappe in der Tat nur auf andere Weise unecht erscheinen? Und was wäre denn mit einer echten, vielleicht speziell für das Projekt fotografierten, die es nur noch freizustellen und einzumontieren gälte?

Oder haben wir hier eine ähnliche Diskussion wie vor einem Vierteljahrhundert, als Digitalkameras begannen, so gute Ergebnisse zu liefern, dass auch Profis sie nicht länger ignorieren konnten?  Da wurden dann die Digitalfotos plötzlich nicht mehr wie zuvor wegen ihrer Mängel kritisiert, sondern wegen ihrer „glatten“ Perfektion. Oh je, das echte, natürliche Korn, kalt ersetzt durch tote Pixel! Wie schön war’s doch in der schummrigen Dunkelkammer im Gestank von Entwickler- und Fixierlösungen! Was waren wir stolz auf unsere Tricks, aufs Abwedeln und Nachbelichten! Und das nun alles am Monitor, wo es nicht um Sekunden geht, wie lange Filmstreifen oder Papier in der Entwicklerlösung liegen, wo ich zahllose Möglichkeiten der Einflussnahme habe, die ich früher vermisste? Ja, es fehlt das sinnliche Erlebnis des Gestanks und Rotlichts, die Berge misslungener Abzüge im Papierkorb. Na und? (Ich habe es keine Sekunde vermisst.)

Kurzum, ich halte Kunerts Begründung für daneben. Will auch er mit den Mängeln seines Verfahrens punkten? Dass etwa manche Strukturen zu groß sind? Dass man, schaut man genauer hin, dann doch hier und dort erkennt, dass das nicht das erwartete Bild einer – wenn auch seltsamen – Realität ist, sondern ihres Nachbaus im Kleinen? Er könnte stattdessen ja auch einfach sagen: Das ist mein Metier. Ich habe einen Riesenspaß dabei, diese Szenen in der Werkstatt nachzubauen, mir geht’s nicht um Schnelligkeit und Effektivität, ich liebe es, in der Werkstatt zu sägen und zu spachteln, zu schleifen und zu hämmern, zu kleben, zu pinseln und zu streuen. Der Geruch von Leim und Farbe, Gips und Holzstaub stört mich nicht – ich genieße ihn. Dann das Ganze ausleuchten, fotografieren, am Ende Bilder präsentieren, die aussehen als ob.

Frank Kunert: Kleinigkeiten mit Model-Maßen
Frank Kunert | Treffpunkt

Da wäre ich sofort auf seiner Seite und würde ihm beipflichten: Kann ich gut verstehen. Es ist etwas anderes, ob so ein Modell in Wochen wächst, Widerstände des Materials  zu überwinden sind – oder ob Fotos gesammelt und montiert werden. Alles völlig nachvollziehbar. Aber nicht: Die digital bearbeitete Briefkastenklappe sieht nur auf andere Weise unecht aus.

Aber diese Diskussion muss einen nicht kümmern. Den Genuss der Bilder beeinträchtigt das in keiner Weise. Wir würden es zwar anders machen, aber das hindert uns nicht daran zu schätzen, wie er es gemacht hat. Also, tauchen Sie ein in Frank Kunerts seltsame Bildwelten, lassen Sie sich verzaubern, rätseln Sie, haben Sie Ihren Spaß daran, und lassen Sie sich auch gleichzeitig auf das leise Grauen ein, das diese Welten mit sich bringen. Das eine schließt das andere nicht aus.

Frank Kunert
Carpe Diem
Hatje Cantz 2022
Hardcover, 80 Seiten
20 Euro

https://www.hatjecantz.de/frank-kunert-8290-0.html

In gleicher Ausstattung zum selben Preis:
„Wunderland“, „Verkehrte Welt“ und „Lifestyle“

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Doc Baumann

Doc Baumann befasst sich vor allem mit Montagen (und ihrer Kritik) sowie mit der Entlarvung von Bildfälschungen, außerdem mit digitalen grafischen und malerischen Arbeitstechniken. Der in den Medien immer wieder als „Photoshop-Papst“ Titulierte widmet sich seit 1984 der digitalen Bildbearbeitung und schreibt seit 1988 darüber.

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Kommentar

  1. Man hört ja sehr häufig von Filmemachern, dass sie CGI möglichst nur dann verwenden, wenn es mit einem gebauten Set oder auch mit Modellen nicht geht. Beim Filmen kommt natürlich dazu, dass sich die meisten Schauspieler in gebauten Kulissen wohler fühlen folglich glaubwürdiger agieren können.
    Echt bleibt echt. Auch wenn das gewünschte oder benötigte Ergebnis nur ein zweidimensionaler Abklatsch der Wirklichkeit ist, oder gar nur ein virtueller.

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