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Die digitale Nachahmung der realen Welt

Die digitale Nachahmung der realen Welt
Die digitale Nachahmung der realen Welt / Foto und Montage: Doc Baumann

 Warum heißt ein Spuren hinterlassendes Werkzeug „Pinsel“ und nicht zum Beispiel „Liberasemitator“? Warum simulierten die Oberflächen mancher Programme einst reale Materialien wie Holz oder Leder und sind heute auf schlichte und blasse Formen reduziert? Eigentlich braucht die digitale Welt keine Parallelen zur realen – Doc Baumann fragt sich, ob wir als Benutzer sie benötigen.

Nach dem Start unseres Rechners erscheint die Schreibtisch-Oberfläche. Wir stecken zusammengehörige Dokumente in Ordner oder werfen sie in den Papierkorb, wenn wir sie nicht länger benötigen. Unsere Arbeit am Computer ist weitgehend eine digitale Nachahmung unserer analogen Tätigkeiten an einem realen Schreibtisch. Das alles könnte auch völlig anders organisiert und benannt sein, denn eigentlich nötig ist es nicht. Es gäbe zahllose alternative Möglichkeiten, solche Schnittstellen zu gestalten und zu benennen. Die digitale Nachahmung der realen Welt setzt den Möglichkeiten des Computers enge Grenzen, aber sie erleichtert uns ebenso den Zugang ungemein.

Nehmen wir nur Photoshop. Es war keineswegs das erste Programm seiner Art auf dem Markt, bereits 1984 arbeitete ich mit MacPaint, danach mit vielen anderen Mal-, Zeichen- und Bildbearbeitungsprogrammen. Die klarste digitale Nachahmung des analog Gewohnten lieferte vielleicht „Digital Darkroom“; da machte bereits der Name dem künftigen Anwender klar, worum es geht. Überhaupt die Namen. Warum heißt der Pinsel seit den Anfängen von Malprogrammen so? Seine Wirkungsweise erinnert ja nur rudimentär an das, was ein realer Pinsel tut. Nun gut, er hinterlässt farbige Spuren. Aber das tut ein Waschbär, der durch eine Wanne mit Farbe gelaufen ist, auch. Warum hat niemand dieses Tool etwa „Liberasemitator“ benannt?

Längst gibt es Programme, deren Pinsel-Werkzeuge tatsächlich Spuren der Art hinterlassen, wie wir sie von wirklichen Pinseln kennen. Die digitale Nachahmung ist hier schon sehr weit – dennoch kann jeder, der mit einem Marderhaarpinsel und den Farbnäpfchen eines Wasserfarbkastens umgehen kann, in Sekundenschnelle Spuren und Formen erzeugen, die selbst hochspezialisierte Programme kaum simulieren könnten.

Photoshop und Lightroom können längst alles, was früher in der Dunkelkammer erreichbar war, und viel, viel mehr dazu. Nicht allein, dass wir nicht mehr in rötlicher Dämmerung herumtapsen müssen, umgeben von stinkenden Chemikalien, die auf exakten Temperaturen gehalten werden mussten – wir haben so viele Möglichkeiten hinzugewonnen, dass der Wunsch nach Rückkehr in die Dunkelkammer nur ein nostalgischer sein kann, jedenfalls keiner, der aus Qualitätserwägungen erwogen würde.

Aber versuchen wir mal einen Augenblick lang uns eine Welt vorzustellen, in der es zuvor weder Photographie (extra mit ph geschrieben) noch Malerei und Grafik gegeben hätte. Blöde Idee und völlig unhistorisch – dennoch! Und nun kommen Programmierer und lassen sich – ganz ohne digitale Nachahmung realer Vorbilder – Anwendungen einfallen, mit denen wir malen und zeichnen können. Und weil es uns langweilt, Fotos nur auf dem Display unserer Kamera zu bewundern, lassen sie sich Programme einfallen, mit denen wir diese Bilder bearbeiten und verändern können. Wow!

Ein spannendes Gedankenexperiment. Von den Evolutionsbiologen wissen wir, dass identische Anfangsbedingungen einerseits nichts darüber aussagen, in welche Richtung sich Organismen entwickeln – dass aber andererseits für gleiche Aufgaben sehr ähnliche Lösungen mehrfach und unabhängig voneinander gefunden werden. Augen zum Beispiel haben sich im Laufe der Evolution immer wieder neu gebildet, aus ganz unterschiedlichen Gewebetypen. (Und sie sind auch wieder verschwunden, wenn sie nicht mehr benötigt wurden.)

Was sagt uns das über ein hypothetisches Photoshop, das in eine Welt hineinpurzelt, in der es zuvor die Traditionen von Malerei und Dunkelkammer nicht gab? Einerseits können sich die Programmierer die digitale Nachahmung von Vorläufern ersparen, andererseits stehen sie vor ähnlichen Herausforderungen wie die Menschen in jenem Paralleluniversum, in dem es die Photographie bereits gab. Nur würden sie den Abwedler nie Abwedler nennen und dem Nachbelichter ebenfalls einen anderen Namen geben. Hätten sie darüber hinaus Ideen, was man aus den Bilddaten machen könnte, auf die wir gar nicht kommen wegen unserer Vorgeschichte?

Ein schönes Beispiel ist das Wacom-Tablet. Es ist einerseits die Rückkehr von der Maus zum Mal- und Zeichenwerkzeug, das mit den Fingern und nicht in der Handfläche gehalten wird (was man als Nostalgie interpretieren könnte) –, es ist ist aber vor allem die sinnvolle Konsequenz aus der Tatsache, dass Feinmotorik von Muskeln, Sehnen und steuernden Gehirnbereichen her bei Zeigefinger und Daumen besser aufgehoben ist als bei der Handfläche, die nur mit Hand-, Ellbogen- und Schultergelenk gesteuert wird.

Im Rahmen meiner Kunstausbildung an der Hochschule, vor vielen Jahrzehnten, galt es als hoher Wert, materialgerecht zu arbeiten. Das bedeutete, nicht mit einem Material das billig nachzuahmen, was eigentlich die Domäne eines anderen war. Tropfende Farben auf pastosen Farbspuren, darunter eine deutlich sichtbare – fast fühlbare – Leinwandstruktur, Lasuren, Mischungen … längst kein Problem mehr, dafür die geeignete Software zu finden. Und alles in höchstem Maße nicht materialgerecht. Kümmert das jemanden? Nein! Sollte es jemanden kümmern? Ich denke: ebenfalls nein. So wie im 19. Jahrhundert die Fotografie als billiger und platter Einbruch in die Welt der hochkünstlerischen Porträtmalerei wahrgenommen wurde (und zugleich erstmals allen Menschen erlaubte, ein Bildnis von sich oder ihren Lieben anfertigen zu lassen), so wurden auch neue Werkzeuge wie Spritzpistole oder Materialien wie Acrylfarben zunächst als Parias betrachtet, die dank neuer Mechanik oder Chemie Ergebnisse erlaubten, die zuvor nur mit sehr viel Arbeit, Zeit und Erfahrung realisierbar gewesen wären.

Derzeit scheint die digitale Nachahmung der realen Welt zumindest bei der Gestaltung grafischer Benutzeroberflächen nicht gefragt zu sein. Angesagt ist sogenanntes flaches Design – keine Schlagschatten, wo nichts ist, das einen Schatten werden könnte, keine Simulation analoger Erscheinungen. Reduzierung auf das Notwendige. Purismus. Ich halte es zwar auch lieber mit dem Klassizismus als mit dem Barock. Aber ob Sie’s glauben oder nicht: Ich arbeite noch immer meist mit Photoshop CS6 – obwohl mir die Vorzüge von CC völlig klar sind –, allein deswegen, weil ich mich nicht an diese neue Oberflächengestaltung gewöhnen kann (und will). Eben flach – im schlechtesten Sinne des Wortes.

Nötig ist wohl beides: Einerseits das Abholen der Nutzer in der vertrauten analogen Welt, das Ideal der unsichtbaren Benutzeroberfläche, die sich so natürlich in die Umwelt integriert, dass sie gar nicht mehr als von dieser unterschieden wahrgenommen wird. Andererseits das freie Ausschöpfen der Möglichkeiten, die über die digitale Nachahmung der realen Welt hinausgehen. Es ist wohl auch eine Frage der Zeit: Wenn heute bereits Zweijährige in einer Weise auf Smartphones herumpatschen, die von einer sinnvollen Handhabung nicht mehr weit entfernt ist, werden sie in späteren Jahren andere Vorstellungen von idealen Benutzerschnittstellen haben als ich. Hinzu kommt allerdings auch das unvorhersehbare Element der Mode. Alles könnte sich auch ganz anders entwickeln und das Natürlich-Analoge, das historisch Gewachsene, irgendwann ein neuer, hochgeschätzter Wert werden, den naturgetreu digital zu simulieren sich die Designer dann die größte Mühe geben werden.

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Doc Baumann

Doc Baumann befasst sich vor allem mit Montagen (und ihrer Kritik) sowie mit der Entlarvung von Bildfälschungen, außerdem mit digitalen grafischen und malerischen Arbeitstechniken. Der in den Medien immer wieder als „Photoshop-Papst“ Titulierte widmet sich seit 1984 der digitalen Bildbearbeitung und schreibt seit 1988 darüber.

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