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Die Bilder der Toten

Vermutlich kennt jeder die Geschichte, wie Vivian Maier erst nach ihrem Tod im Jahre 2009 als eine der bedeutendsten US-amerikanischen Street-Fotografen entdeckt worden und durch Ausstellungen, Buchveröffentlichungen und zwei Dokumentarfilme zu posthumem Ruhm gekommen war. Manche bedauern nur, dass die in Armut gestorbene Amateurfotografin nichts mehr davon hatte und auch nie von der Anerkennung ihrer Kunst erfahren konnte. Andere sehen es generell kritisch, über Fotos aus einem Nachlass frei zu verfügen, deren Urheberin sie gar nicht veröffentlicht sehen wollte. Wie sollen wir mit den Bildern der Toten umgehen?

Die Bilder der Toten
Vivian Maiers Werk auf ihrer posthum eingerichteten Website

Die gerichtlichen Streitigkeiten um die Urheber- und Verwertungsrechte an Vivian Maiers Fotos dauern bis heute an; neben den drei miteinander konkurrierenden Entdeckern ihres Werks sind noch entfernte Verwandte Maiers im Spiel, die Erbansprüche geltend machen können. Aber welche Dritte auch immer legal über die Bilder verfügen können – was die Justiz irgendwann klären wird –, bleibt die Frage, was im Sinne der Urheberin wäre.

Vivian Maier hatte ihre Aufnahmen niemandem gezeigt und nie auch nur versucht, für ihre Fotografie anerkannt zu werden. Man könnte also spekulieren, dass sie ihr Werk lieber unter Verschluss gehalten hätte. Die Fotos gelangten überhaupt nur in die Öffentlichkeit, weil sie sie aus Platzgründen einlagern musste und die Lagermiete schließlich nicht mehr zahlen konnte. So kam es kurz vor ihrem Tod zur Zwangsversteigerung ihres Besitzes, die sie aber wohl nicht mehr zur Kenntnis nahm. Bis heute ist über Vivian Maier wenig bekannt, und wir wissen nicht, welche Rolle die Fotografie für sie spielte, auf die sie immerhin viel Zeit verwendet und dazu relativ teure Kameras erworben hatte. Man kann daher auch nicht ausschließen, dass sie über die späte Wertschätzung glücklich gewesen wäre.

Mir fällt dazu eine Aussage ein, die fälschlich Bertolt Brecht zugeschrieben wird: „Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn niemand mehr an ihn denkt“. Tatsächlich hat Brecht das nie geschrieben und wohl auch nie gesagt; der Gedanke ist ohnehin älter. Schon 1830 hatte ihn Christian von Zedlitz in „Der Stern von Sevilla“ so ausgedrückt: „Todt nur ist, wer vergessen wird“, und Ninon Ausländer schrieb an ihren zweiten Mann Hermann Hesse: „Alle leben, an die wir denken. Sie sind erst wirklich tot, wenn niemand mehr sich ihrer erinnert“.

Das klingt tröstlich – wir mögen irgendwann nicht mehr da sein, aber in der Erinnerung unserer Lieben leben wir weiter. Heute bekommt die Idee aber oft noch einen anderen Dreh. So heißt es in einem populären Meme: „One day, someone will think about you for the last time in eternity. You will be forgotten by the world and the universe“ (worauf als Pointe die Entgegnung folgt: „Not if I eat the Mona Lisa!“). So formuliert klingt es geradezu deprimierend: Unsere Existenz wird am Ende, wenn niemand mehr an uns denkt, belanglos gewesen sein.

Aber stimmt das überhaupt? Was soll es denn bedeuten, dass jemand zum letzten Mal an einen denkt? Wer wollte sicher wissen, wann es wirklich das letzte Mal ist? Eine solche Aussage könnte man nur aus einer Position göttlicher Allwissenheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft treffen, und wenn ein höheres Wesen in dieser Position wäre, hätte immerhin dieses Wesen doch noch einmal an einen gedacht. Wir können tatsächlich nie ausschließen, dass ein längst Vergessener doch wieder in Erinnerung gerufen wird, wie lange es auch immer dauern mag.

Vivian Maier war als Fotografin nicht bloß vergessen, sondern nie bekannt gewesen; dennoch verhalf ihr die Entdeckung ihres Werks am Ende zum verdienten Ruhm. Eine solche Wendung des Schicksals kann wie in ihrem Fall schon kurz nach dem Tod geschehen; bei anderen dauerte es sehr viel länger. An den als „Ötzi“ bekannten Mann, der vor mehr als 5000 Jahren in den Ötztaler Alpen an den Folgen eines Pfeilschusses gestorben war, hatte jahrtausendelang niemand mehr gedacht, bis 1991 seine mumifizierte Leiche gefunden wurde. Aus der Untersuchung dieses Funds konnte man manches über sein Leben und vor allem seine letzten Stunden herausfinden; vieles bleibt weiter unsicher, aber die Menschen machen sich Gedanken über ihn und spekulieren über seine Geschichte.

Ähnlich erging es dem Mädchen von Egtved, das, kaum 18 Jahre alt, vor 3400 Jahren in Jütland starb. Auch sie war längst vergessen, bis 1921 zufällig ein Bauer auf ihren Baumsarg stieß. 2015 ergab eine Strontiumisotopenanalyse eines ihrer Zähne, dass sie nicht aus der Gegend von Egtved oder überhaupt aus Dänemark stammte, sondern vermutlich aus dem Schwarzwald kam. Zudem hätte sie die weite Reise nach Jütland nicht nur einmal unternommen, sondern im Jahr vor ihrem Tod noch einmal ihre alte Heimat besucht. Dieses Ergebnis wurde später in Zweifel gezogen, weil die Verteilung der Strontiumisotope im Erdreich durch Düngung verfälscht sein kann. Vielleicht war sie also doch eine frühe Dänin, aber möglicherweise lag ihre Herkunft auch im Gebiet des heutigen Schweden oder Norwegen. Sicher ist nur, dass sie in ihrem kurzen Leben viel gereist ist. Das letzte Wort über das Mädchen von Egtved ist noch nicht gesprochen.

Man muss auch keine Überreste eines Menschen selbst finden. Vor ein paar Jahren entdeckten Archäologen in Minden bei Ausgrabungen im Bereich einer spätmittelalterlichen Latrine eine aus Holz geschnitzte Ritterfigur – ein Spielzeug, das offenbar in die Toilette gefallen und dadurch für die Nachwelt konserviert worden war. Ein solcher Fund genügt, um an das unbekannte Kind zu erinnern, dem vor vielen Jahrhunderten dieses Missgeschick passiert war, an die Eltern, die ihrem Kind ein solches Spielzeug geschenkt hatten, und daran, wie Bürgerkinder mit solchen Figuren vielleicht Ritterturniere nachspielten.

Alles, was wir Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte oder gar Jahrtausende nach dem Tod eines Menschen über ihn herausfinden, trägt dazu bei, uns sein Leben wieder in Erinnerung zu rufen, und dank der Historiker und der Archäologen wird er ein Stück weit wieder lebendig, selbst wenn sich zu seinen Lebzeiten kaum jemand für ihn interessiert hatte. Und so beschäftigen sich heutzutage wieder viele mit der rätselhaften Vivian Maier, dank der Bemühungen von Leuten, die sich dabei auch und vor allem durch eigene, materielle Interessen leiten ließen.


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Michael J. Hußmann

Michael J. Hußmann gilt als führender Experte für die Technik von Kameras und Objektiven im deutschsprachigen Raum. Er hat Informatik und Linguistik studiert und für einige Jahre als Wissenschaftler im Bereich der Künstlichen Intelligenz gearbeitet.

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2 Kommentare

  1. Ich finde eine Diskussion über dieses Thema überflüssig wie einen Kropf. Wenn ein Künstler ein Werk geschaffen hat, gehört ihm dies nicht mehr allein,sondern allen, die auch im weiteren Sinn Umfeld und Inspiration dafür waren. Ein schlagendes Beispiel ist Franz Kafkea, der seinen Freund Max Brod beauftragt hatte, sein Manuskripte zu verbrennen. Brod hatt jdoch den Verstand, das nicht zu tun und ich denke, eine Welt ohne die Kafka Texte wäre ärmer.

    1. «… überflüssig wie einen Kropf»??
      Das Gegenteil ist der Fall. Michael Hussmanns Überlegungen sind höchst interessant, alles andere als trivial. Selten habe ich profundere Gedanken zur Verbindung von Erinnerung(skultur) und Fotografie gelesen.

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