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Roy Lichtenstein: Plagiator?

Was ist dran an dem im Dokumentarfilm WHAAM! BLAM! Roy Lichtenstein and the Art of Appropriation (hier ein Trailer) erhobenen Plagiatsvorwurf gegen einen Pionier der Pop Art?

Roy Lichtenstein
„WHAAM! BLAM! Roy Lichtenstein and the Art of Appropriation“, ein Dokumentarfilm von James L Hussey

Diese Anschuldigung erscheint in mancherlei Hinsicht seltsam. Die Werke, um die es geht, entstanden schon vor rund 60 Jahren; zudem starb Roy Lichtenstein 1997 – ihn selbst betrifft es also nicht mehr, die Einschätzung seiner Rolle in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts wohl auch nicht, und so oder so werden Sammler kaum Sorgen vor einem Wertverlust haben müssen. Es war ja offensichtlich, dass Roy Lichtenstein in den 1960er Jahren auf Comics als Material für seine Gemälde zurückgriff. Die Vorlage für Look Mickey, dem ersten dieser Bilder, mit denen er ab 1961 Aufsehen erregte, stammte aus einem Donald-Duck-Heft. Das Online-Werkverzeichnis der Roy Lichtenstein Foundation verzeichnet akribisch alle Originale, bei denen sich der Künstler bedient hatte; es ist also nicht so, als ob hier ein Geheimnis aufgedeckt würde.

Auf der anderen Seite kann man auch die Frustration der oft schlecht bezahlten Comiczeichner nachvollziehen. Russ Heath beispielsweise, einer der Zeichner der Reihe All-American Men of War, der damit unter anderem die Vorlage zu Lichtensteins Blam geliefert hatte, starb verarmt 2018, während Roy Lichtenstein seine Werke für Tausende von Dollar verkaufen konnte. Inzwischen werden sie für zwei bis dreistellige Millionenbeträge gehandelt. Hy Eisman, den erst der Filmemacher James L. Hussey darauf aufmerksam machte, dass eines seiner Comic-Panels die Inspiration zu Lichtensteins Girl in Window war, sagt im Film über dieses Missverhältnis: „Wenn es nicht so tragisch wäre, wäre es lustig“. Aber auch Comiczeichner, denen von Anfang an klar war, woher Lichtenstein seine Ideen bezog, konnten ihn damals nicht wegen eines Plagiats verklagen, da sie ihre Rechte an die Verlage abgetreten hatten. Und die hielten in allen diesen Fällen die Füße still, selbst Disney, die sonst eifersüchtig über ihre Rechte wachten. Die Comiczeichner hätten ohnehin nichts davon gehabt, denn ihre Mühen galten mit dem knapp kalkulierten Honorar als abgegolten. Hy Eisman erinnert sich daran, dass er rund 4 Dollar pro Seite bekommen hatte.

Nun war es natürlich nicht Roy Lichtensteins Schuld, dass Comiczeichner so schlecht bezahlt wurden; dieser Vorwurf wäre an ihre Auftraggeber zu richten. Ohne Lichtensteins Gemälde wäre es ihnen nicht besser gegangen, und es hätte ihnen ja auch niemand verwehrt, selbst ihr Glück auf dem Kunstmarkt zu suchen. Aber wie ist Roy Lichtensteins Arbeitsweise rechtlich und moralisch zu beurteilen – als Plagiarismus, als Appropriation oder als zulässige Inspiration, wie sie in der Kunstgeschichte aller Zeiten gang und gäbe war? Manche Kunstexperten haben sich auf die Seite Lichtensteins geschlagen. Bradford R. Collins beispielsweise, Professor für Kunstgeschichte an der University of South Carolina, wird im Guardian mit der Einschätzung zitiert, es handele sich nicht um Plagiate, sondern um eine rechtlich akzeptable Appropriation, da Lichtenstein die Comic-Motive als Vorlage für Gemälde und damit für einen ganz anderen als ihren ursprünglichen Zweck genutzt hätte.

Man kommt nicht umhin, sich Lichtensteins Arbeitsweise genauer anzuschauen. Er hat die genutzten Motive nicht einfach kopiert; in vielen Details wich der Künstler offenbar bewusst von den Vorlagen ab und kombinierte teilweise Motive aus verschiedenen Bildern. In Okay, Hot-Shot, Okay beispielsweise stammt der Kampfpilot im Vordergrund aus einem Panel und das ihn verfolgende Flugzeug aus einem anderen; die Sprechblase hat Lichtenstein einem dritten Panel entliehen und aus diesen Teilen ein Bild montiert, das sich so nicht im Comic findet.

Roy Lichtenstein
Die Vorlage von Russ Heath (links – hier für einen leichteren Vergleich um 90 Grad gedreht) und Roy Lichtensteins Gemälde Blam (rechts)

Dabei fällt auf, dass Lichtensteins Versionen meist kunstloser wirken als die Arbeiten der technisch sehr versierten Comiczeichner. Russ Heath, dessen Zeichnung eines Piloten, der seinen Düsenjäger nach einem Treffer mit dem Schleudersitz verlässt, die Vorlage zu Blam war, hatte viel Mühe auf eine korrekte Perspektive und die Wiedergabe der Körperschatten verwendet, was seinen Bildern ihre plastische Wirkung verleiht. Im Vergleich erscheint Lichtensteins Version technisch unvollkommen. Der linke Flugzeugflügel ist in einem falschen Winkel an den Rumpf angesetzt und passt in seiner Perspektive nicht zum rechten Flügel; auch der Lufteinlass des Düsentriebwerks hat die perspektivisch falsche Form. Um solche Fehler zu vermeiden, hätte Lichtenstein bloß die Konturen der Vorlage nachzeichnen müssen. Auch bei den durch Schraffuren angedeuteten Körperschatten an Flugzeugrumpf und Flügeln wirken die Abweichungen willkürlich. Nicht nur dieses Lichtenstein-Werk hat mit seinen reduzierten Farben und überwiegend unstrukturierten Farbflächen eine zweidimensionalere Anmutung als die zugrunde liegenden Comic-Bilder; dieser Stil ist für sein Werk insgesamt charakteristisch.

Roy Lichtenstein
Lichtensteins Girl in Window (links) und die Vorlage Hy Eismans (rechts)

Für Girl in Window hat Lichtenstein ein Panel Hy Eismans verwendet, von dem er dann aber in vielen Einzelheiten abwich. Eisman hatte eine ungewöhnliche Perspektive gewählt und die an einem Tisch sitzende Frau steil von oben abgebildet, während sich Lichtenstein für eine konventionellere frontale Ansicht entschied. Das Gesicht der Frau ist eine fast exakte Kopie und die Haltung ihrer Arme sehr ähnlich, aber die Haare, das Kleid und auch der Hintergrund sehen bei Lichtenstein völlig anders aus; die Hände unterscheiden sich zumindest in Details. Durch Schraffuren angedeutete Halbtöne in der Vorlage hat Lichtenstein durch einheitliche Farbflächen ersetzt. Auch hier wirkt Lichtensteins Gemälde zweidimensional, wo der Comiczeichner einen plastischen Eindruck angestrebt hatte.

Ironischerweise war es so, dass Lichtenstein die „Low Art“ kleinformatiger Comic-Zeichnungen, deren Schöpfer höchst kompetent innerhalb der Beschränkungen eines billigen Druckverfahrens arbeiteten, als Ausgangspunkt für Gemälde – also „High Art“ – nahm, die technisch vergleichsweise dilettantisch erscheinen. Aber diese Trivialisierung des vermeintlich schon an sich Trivialen ist natürlich Absicht und nicht durch ein technisches Unvermögen Lichtensteins zu erklären.

Dies zeigt sich am deutlichsten an den Rasterpunkten, die zu Lichtensteins Markenzeichen wurden: Im Offsetdruck ist ein Punktraster die einzige Möglichkeit, Farb- und Helligkeitsabstufungen nachzubilden, wie sie ein Maler auf seiner Palette einfach anmischen kann. Indem Lichtenstein penibel Hunderte solcher Rasterpunkte malte, vollzog er mit den Mitteln der Malerei etwas nach, das eigentlich ein Ersatz für die im Druck nicht verfügbaren malerischen Techniken war.

Dass seine Motive und deren Darstellung besonders originell und seine Bilder technisch perfekt wären, hat Lichtenstein nie für sich in Anspruch genommen. Über sein Bedroom at Arles (1992) nach van Goghs kleinformatigem Gemälde – oder vielmehr dessen Reproduktion auf einer Postkarte – spottete er selbstironisch, „sein [van Goghs] Bild ist viel besser, aber meines ist viel größer“. Der Kunsthistoriker Hal Foster (nicht der Comiczeichner gleichen Namens) hat Lichtensteins Werke als „handmade readymades“ charakterisiert: Seine Kunst bedient sich ungeniert bei etwas Vorhandenem außerhalb der Sphäre der „hohen“ Kunst, stellt es aber nicht einfach wie vorgefunden aus, wie es Marcel Duchamp mit seinem Urinal getan hatte, sondern erschafft es mit malerischen Mitteln neu und simplifiziert/trivialisiert es dabei.

Man könnte gegen Lichtenstein einwenden, dass seine Kunst kalkuliert wirkt. Sein Erfolg auf dem Kunstmarkt stellte sich erst ein, als er schon fast 40 war; als Epigone des Abstrakten Expressionismus war er zuvor weitgehend unbeachtet geblieben. Mit seinen Comic-inspirierten Gemälden hatte er dann 1961 seine Nische gefunden, die er in den folgenden Jahrzehnten intensiv bestellte – und er war damit auch Andy Warhol knapp zuvorgekommen, der um dieselbe Zeit ebenfalls mit Comic-Motiven experimentiert hatte. Warhol musste sich eine andere Nische suchen, denn diese spezielle Variante der Pop Art trug nicht so weit, dass sie von mehr als einem Künstler hätte vertreten werden können, so wie es bei früheren Kunstrichtungen üblich gewesen war. Für Roy Lichtenstein hat es funktioniert, so wie es der Sprechblasentext in Masterpiece (1962) vorausgesagt hatte: „Why, Brad darling, this painting is a masterpiece! My, soon you’ll have all of New York clamoring for your work!“

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Michael J. Hußmann

Michael J. Hußmann gilt als führender Experte für die Technik von Kameras und Objektiven im deutschsprachigen Raum. Er hat Informatik und Linguistik studiert und für einige Jahre als Wissenschaftler im Bereich der Künstlichen Intelligenz gearbeitet.

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