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ISO und Belichtung: Eine Geschichte voller Missverständnisse

Wer vom ISO-Wert spricht, meint häufig etwas (fast) ganz anderes, und auch der Begriff der Belichtung ist nicht so klar, wie man denken könnte.

Die Missverständnisse fangen schon damit an, dass „ISO“ oft für die Einheit der Lichtempfindlichkeit gehalten wird. Tatsächlich sind ISO und ebenso die Vorläufer ASA und DIN bloß die Namen der internationalen (ISO), US-amerikanischen (ASA) beziehungsweise deutschen (DIN) Organisationen, die die Empfindlichkeitsmessung standardisiert haben. Eine echte Einheit haben diese Werte nicht. (Die DIN-Werte wurden früher mit einem Gradzeichen geschrieben, das ein längst obsoletes Relikt der Scheiner-Grade des 19. Jahrhunderts war – die DIN-Werte hatten mit Temperaturgraden nichts und mit Winkelgraden nur sehr entfernt etwas zu tun.)

Im Folgenden werde ich der Einfachheit halber immer von ISO-Werten sprechen, auch wenn ich von einer Zeit rede, in der die Angaben in ASA oder DIN erfolgten. Seit Anfang der 1960er Jahre kann man DIN und ASA problemlos untereinander und in die heute üblichen ISO-Werte umrechnen, und ich will die Sache nicht noch komplizierter machen, als sie ohnehin schon ist.

ISO und Belichtung: Eine Geschichte voller Missverständnisse
Die Empfindlichkeitseinstellung in der Analogfotografie, hier am Beispiel der Pentax MX gezeigt. Die Skala reicht von 32 bis 1600.

Der ISO-Wert wird als Empfindlichkeit verstanden, was ja nicht ganz falsch ist – aber völlig richtig ist es auch nicht. In der Digitalfotografie sehen viele die ISO-Einstellung als Verstärkungsregler, aber das ist sie längst nicht immer. Sogar eine selektive Aufhellung, zum Beispiel zur Kompensation einer Vignettierung durch das Objektiv, wird als höherer ISO-Wert beschrieben, so dass verschiedene Teile des Bildes einen unterschiedlichen ISO-Wert hätten – das mag als Metapher oder Vergleich angehen, ist aber wörtlich genommen Unsinn.

Früher war alles … fast genauso

Diese Begriffsverwirrung ist nicht etwa ein neues Phänomen, das mit der Digitalisierung der Fotografie entstanden wäre; in der analogen Fotografie war es nicht grundsätzlich anders. Seit es Kameras mit einer Belichtungsautomatik oder wenigstens einem eingebautem Belichtungsmesser zur Unterstützung der manuellen Belichtung gibt, haben diese eine Empfindlichkeitseinstellung. Schließlich müssen der Belichtungsmesser und/oder die Automatik wissen, für wie viel Licht die Belichtung einer Aufnahme sorgen soll.

Mit der tatsächlichen Empfindlichkeit des verwendeten Filmmaterials hat diese Einstellung erst einmal nichts zu tun. Wenn man einen ISO-100-Film verwendet und an der Kamera „400“ wählt, wird der Film dadurch nicht empfindlicher. Die Kamera belichtet lediglich um −2 EV knapper, weil sie nur noch für ein Viertel so viel Licht sorgen soll, und das Ergebnis sind entsprechend dunklere Bilder. Nun könnte man aber denken, dass es in der Praxis ja doch um dieselben Werte geht: Man legt einen Film ein und wählt dann am ISO-Rad den Wert, der auf der Filmpackung steht. Aber so einfach war die Sache nie.

Da die Kameras früher oft keine Belichtungskorrektur erlaubten, musste der ISO-Regler zweckentfremdet werden, um in die automatische Belichtungssteuerung einzugreifen. Wollte man eine Person im Gegenlicht fotografieren und sie nicht auf eine Silhouette reduzieren, musste reichlicher belichtet werden, als die übliche Integralmessung vorschlug, und dazu stellte man einen niedrigeren ISO-Wert ein, statt beispielsweise ISO 100 also 50 (für +1 EV) oder 25 (+2 EV). Umgekehrt erreichte man mit einem erhöhten ISO-Wert eine negative Belichtungskorrektur.

Manchmal hätte man auch einen höherempfindlichen Film gebraucht, weil die Lichtverhältnisse das erforderten, statt ISO 400 also beispielsweise ISO 1600, bloß hatte man den mitzunehmen vergessen. Dann wählte man mit dem ISO-Regler die Wunschempfindlichkeit, konnte trotz schlechten Lichts noch mit verwacklungsfreien Verschlusszeiten fotografieren und teilte dem Labor später mit, dass es den Film bei der Entwicklung um zwei Blendenstufen pushen müsste. Dadurch wurde die Filmemulsion zwar nicht wirklich lichtempfindlicher; die Belichtung hatte in den Silberhalogenidkristallen schließlich nur eine begrenzte Zahl von Entwicklungskeimen entstehen lassen. Die Push-Entwicklung wirkte aber als Dünger, um auch noch die kleinsten Entwicklungskeime zum Blühen zu bringen, die keimfähigen Kristalle also in metallisches Silber zu verwandeln.

Höherempfindliche Filme enthalten meist zwei Emulsionsschichten für jede der drei Grundfarben, eine dünne Schicht mit großen und eine dickere Schicht mit kleineren Silberhalogenidkristallen. Die beiden Schichten haben eine unterschiedliche Lichtempfindlichkeit, da größere Kristalle eine größere Chance haben, von genug Photonen getroffen zu werden, dass ein Entwicklungskeim entsteht. Solche Doppelschichtfilme haben praktisch eine variable Empfindlichkeit: Einen Film mit nominell ISO 400 kann man auch wie ISO 200 oder gar 100 belichten, womit man ein noch feineres Korn und gesättigtere Farben erhält. Anders als bei einer Push-Entwicklung ist auch eine Änderung des ISO-Werts für einzelne Aufnahmen möglich. Die überbelichteten Bilder fallen am Ende trotzdem nicht zu hell aus; die Negative sind zwar dichter, lassen also weniger Licht durch, aber das wird beim Belichten der Abzüge automatisch ausgeglichen.

Der Zusammenhang zwischen der ISO-Angabe auf der Filmpatrone und dem bei der Kamera eingestellten Wert war schon immer eher lose. Man kann das mit einem Weinetikett vergleichen, das beispielsweise einen Alkoholgehalt von 12,5% und eine Trinktemperatur von 10° C nennt: Der Alkoholgehalt ist eine objektive Größe; man kann ihn präzise messen. Die Angabe einer Trinktemperatur bedeutet aber nicht, dass der Wein diese Temperatur hätte – er sollte sie aber haben, um ein optimales Geschmackserlebnis zu erzielen. Der ISO-Wert auf der Filmpatrone steht zwischen beiden Arten von Angaben: Er sagt einem zwar, wie empfindlich der Film auf Licht reagiert, aber letztendlich ist er nur eine Empfehlung – der Hersteller meint, dass eine Belichtung entsprechend des aufgedruckten ISO-Werts optimale Bildresultate bringt. Es kann aber gute Gründe geben, von Fall zu Fall von dieser Empfehlung abzuweichen.

Das Belichtungsviereck

Der ISO-Wert, den man an der Kamera einstellt, steht also zwar in einem gewissen Zusammenhang mit der Lichtempfindlichkeit von Film oder Sensor, weicht aber auch oft davon ab. Wirklich sicher ist nur eines: Diese Einstellung informiert die Belichtungsautomatik (oder die Lichtwaage bei einer manuellen Belichtung) darüber, wie viel Licht für eine optimale Belichtung gesammelt werden soll. Oft ist von einem Belichtungsdreieck aus Blende, Verschlusszeit und ISO-Wert die Rede, aber das führt ein bisschen in die Irre. Schließlich bestimmen nur Blende und Verschlusszeit die Belichtung, also wie viel Licht auf Film oder Sensor gelangt. Ein höherer ISO-Wert erzeugt nicht notwendig ein helleres Foto; durch seinen Einfluss auf die Belichtungsautomatik führt er zu einer knapperen Belichtung und einem ohne weitere Maßnahmen dunkleren Bild.

Tatsächlich bilden die relevanten Werte kein Drei-, sondern ein Viereck, wie es das schon 1960 eingeführte APEX-System („Additive System of Photographic Exposure“) beschreibt. APEX liegt auch den Belichtungs-Metadaten im Exif-Standard zugrunde. Die vier Werte sind Av (Blende), Tv (Verschlusszeit), Bv (Helligkeit, also das Ergebnis der Belichtungsmessung) und Sv (Empfindlichkeit). Alle APEX-Werte sind logarithmisch, weshalb man sie addiert, um ihre gemeinsame Wirkung zu berechnen. Die entscheidende Formal lautet:

Av + Tv = Bv + Sv

Das ist nichts anderes als die Lichtwaage in mathematischer Gestalt: Auf der rechten Waagschale liegen Bv, also das Licht, das auf die Frontlinse des Objektivs fällt, und Sv, das angibt, wie viel Licht für eine optimale Belichtung auf Sensor oder Film treffen sollte. Auf der linken Waagschale stehen die Belichtungsparameter Blende (Av) und Verschlusszeit (Tv), die bestimmen, ein wie großer Teil des auf das Objektiv fallenden Lichts auch zum Sensor oder Film gelangt. Nur wenn beide Waagschalen auf gleicher Höhe sind, erhalten wir eine optimale Belichtung. Wenn sich einer der Werte ändert, muss sich noch mindestens ein anderer ebenfalls ändern, damit die Gleichung wieder gilt. Ein höherer ISO-Wert zieht daher eine kleinere Blende und/oder eine kürzere Verschlusszeit nach sich – jedenfalls wenn man sich bei der Belichtung an der Lichtwaage orientiert oder das der Automatik überlässt.

ISO = Verstärkung?

Der ISO-Wert bestimmt nun Sv und beeinflusst indirekt die Belichtungsparameter Verschlusszeit und Blende, aber was hat es mit den anderen Wirkungen auf sich, die man der ISO-Einstellung in der Digitalfotografie zuschreibt? Ein höherer ISO-Wert führt dazu, dass weniger Licht gesammelt wird, und ohne weitere Maßnahmen würde das ein dunkleres Bild ergeben. Dem kann man entgegen wirken, indem man die Verstärkung der aus den Sensorpixeln ausgelesenen Spannungen heraufsetzt. Die Standardverstärkung ist eine, die die maximale Spannung eines Pixels auf das Niveau der höchsten Spannung bringt, die der Analog/Digital-Wandler noch digitalisieren kann. Wenn die allermeisten Pixel aber ohnehin nur recht niedrige Spannungen liefern, weil man entsprechend eines höheren ISO-Werts belichtet hat, kann man sie zusätzlich verstärken, um das Bild so im Ergebnis aufzuhellen.

Problem gelöst, könnte man denken, aber die zusätzliche Verstärkung war immer schon eine zweischneidige Sache. Zunächst einmal wird auf diese Weise nicht nur das Signal, sondern auch (und in gleichem Maße) das Rauschen verstärkt. Außerdem führt die zusätzliche Verstärkung dazu, dass die maximalen Spannungen der Sensorpixel nun den A/D-Wandler übersteuern und die Lichter abgeschnitten werden, falls es in einigen Teilen des Bildes doch relativ hell ist. Damit verliert man einen Teil des Dynamikumfangs, den der Sensor selbst noch bewältigt hatte. Dass man bei höheren ISO-Werten früher dennoch immer die Verstärkung heraufgedreht hatte, hat den Hintergrund, dass das Rauschen verschiedene Quellen hat und einige von ihnen hinter dem Verstärker liegen. Wenn man ein schwaches Signal zunächst verstärkt, bevor man es digitalisiert, sinkt der Anteil des Ausleserauschens, das hinter dem Verstärker entsteht, und das gesamte Bildrauschen nimmt ab (ist aber immer noch deutlich höher als bei einer Aufnahme mit einem niedrigeren ISO-Wert).

Dieser Vorteil stellt sich immer dann ein, wenn das Gesamtrauschen von den Rauschquellen hinter dem Verstärker dominiert wird, was früher oft der Fall war. Doch das gilt schon lange nicht mehr: Moderne CMOS-Sensoren mit integrierten A/D-Wandlern sind nicht nur insgesamt sehr rauscharm; im noch verbliebenen Gesamtrauschen dominieren nun – zumindest bei höheren ISO-Werten – die Rauschquellen vor dem Verstärker, und damit fällt der Vorteil einer Verstärkung weg. Solche Sensoren kann man innerhalb gewisser Grenzen nach jedem beliebigen ISO-Wert belichten, ohne dass man die Verstärkung daran anpassen müsste, und deshalb bezeichnet man sie als ISO-los oder ISO-invariant. Wenn man auf die zusätzliche Verstärkung bei höheren ISO-Werten verzichtet, vermeidet man den damit einher gehenden Verlust an Dynamikumfang, ohne dafür mit mehr Rauschen bestraft zu werden. (Um keine weiteren Missverständnisse aufkommen zu lassen: Wenn man mit einem höheren ISO-Wert belichtet, leidet zwar der Rauschabstand, aber er leidet nicht noch mehr, wenn man nicht zusätzlich verstärkt.)

Hellere Bilder trotz höherer ISO-Werte

Damit sind wir aber wieder zurück am Anfang: Bei höheren ISO-Werten fallen die Bilder zu dunkel aus. Zur Kompensation kann man die digitalisierten Werte mit einem Faktor multiplizieren, aber das ist bloß das digitale Pendant zur analogen Verstärkung und bringt ähnliche Nachteile mit sich. So lange der Szenenkontrast moderat ist, kann man das akzeptieren, denn der maximale Dynamikumfang des Sensors wird dann ja gar nicht benötigt. Bei hohen Kontrasten sollte man dagegen nicht mit einem festen Faktor multiplizieren, sondern eine Gradationskurve anwenden, die Schatten und Mitteltöne anhebt, die Lichter aber nur wenig bis gar nicht. Dann erscheint ein mittlerer Grauwert wieder als mittlerer Grauwert im Bild und dieses wirkt richtig belichtet, aber die Lichterzeichnung bleibt erhalten und verliert nur etwas Kontrast.

Das ist die Methode, die Kameras verschiedener Hersteller schon seit etlichen Jahren optional anwenden können, um den Dynamikumfang zu erweitern: Sie belichten nach einem höheren ISO-Wert und damit knapper, erhöhen dafür aber nicht die Verstärkung, sondern wenden eine angepasste Gradationskurve auf die digitalisierten Sensordaten an, um die Bilder aufzuhellen und die Lichter trotzdem zu bewahren. (Das tun übrigens auch Nikon-Kameras, wenn man Active D-Lighting nutzt, tragen dabei aber irreführenderweise keinen höheren ISO-Wert in die Exif-Metadaten ein, wie es die Modelle aller anderen Hersteller tun.)

Daneben kann es noch andere Gründe geben, ein Bild aufzuhellen. Oben hatte ich schon den Ausgleich der Randabdunkelung durch das Objektiv erwähnt: Bei Systemobjektiven ist dieser bekannt und kann bei der Entwicklung der Sensordaten zu einem JPEG automatisch kompensiert werden. Eine solche partielle Aufhellung verstärkt wiederum auch das Rauschen, und man kann völlig korrekt sagen, dass das Rauschen in den Bildecken dann vielleicht dem einer Aufnahme mit ISO 400 entspricht, während man eigentlich ISO 100 gewählt hatte. Aber das ist nur ein Vergleich; tatsächlich wurde der Sensor einheitlich gemäß ISO 100 belichtet und das zusätzliche Rauschen ist der nachträglichen Randaufhellung und nicht dem ISO-Wert anzulasten.


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Michael J. Hußmann

Michael J. Hußmann gilt als führender Experte für die Technik von Kameras und Objektiven im deutschsprachigen Raum. Er hat Informatik und Linguistik studiert und für einige Jahre als Wissenschaftler im Bereich der Künstlichen Intelligenz gearbeitet.

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