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Das innere Auge und die Farben

Wir können die Augen schließen und uns etwas vorstellen, das wir dann vor unserem „inneren Auge“ sehen – eine der bemerkenswertesten menschlichen Fähigkeiten, wie ich finde. Aber wie sieht es dabei mit den Farben aus – wie gut können wir uns Farben und Farbkombinationen vorstellen, ohne sie wirklich zu sehen?

Das innere Auge und die Farben
Harold Cohen im Jahre 1979 mit einem von AARON gemalten Bild

Auf dieses Thema kam ich durch einen Artikel für DOCMA 105, an dem ich gerade arbeite. Darin geht es eigentlich um generative KI, also Text-zu-Bild-Systemen, aber in diesem Zusammenhang habe ich mich auch mit dem Werk des britischen Malers Harold Cohen (1928–2016) beschäftigt, der seit Anfang der 1970er Jahren und bis zu seinem Tod an AARON gearbeitet hat, einem KI-System, das mehr oder minder eigenständig Bilder produzierte. Die Ergebnisse waren überzeugend genug, dass sie beispielsweise auf der documenta in Kassel und in der Londoner Tate Gallery ausgestellt wurden. Als Cohen seiner KI, die bereits Menschen und Pflanzen zeichnen konnte, auch die Grundlagen der Kolorierung beibringen wollte, stieß er allerdings auf ein Problem.

Er war es gewohnt, über die eigene künstlerische Praxis zu reflektieren und seine Methoden durch Regeln zu beschreiben, die dann von der KI nachvollzogen werden konnten, aber an dieser Stelle scheiterte er: Wenn es darum ging, ein Farbschema für die Kolorierung einer Zeichnung zu entwickeln, war Cohen darauf angewiesen, die Farben zu sehen, die er auf der Palette anmischte. AARON zeichnete zwar Strich um Strich und konnte den aktuellen Zwischenstand eines Bildes auswerten, um den nächsten Strich festzulegen, aber dies geschah auf Basis einer internen Repräsentation – die KI hatte keine Kamera und verfügte über keine Form der visuellen Wahrnehmung, sondern betrachtete die in Entstehung befindlichen Bilder gewissermaßen vor ihrem inneren Auge. Hier konnte ihm der Maler nicht helfen, da er sich außerstande fand, Farbschemata allein in seiner Vorstellung zu entwickeln, und er kam zu dem Ergebnis, dass der Mensch dazu generell nicht fähig sei.

Eine Farbtafel, wie man sie in Prospekten der Hersteller von Lacken und Wandfarben findet. Wir müssen die Farben sehen, um sie beurteilen zu können.

Aber stimmt das? Im Selbstversuch habe ich mir die Farben verschiedener vertrauter Objekte vorzustellen versucht; das funktionierte natürlich, wenngleich unklar blieb, wie präzise die Vorstellung der Realität kam. Wie sollte man eine bloß imaginierte Farbe mit der Wirklichkeit vergleichen? Vielleicht müsste man sich im Dunkeln einen Gegenstand vorstellen, und sich, wenn das Licht angeht, selbst dabei beobachten, wie überrascht – oder auch nicht – man dann auf die tatsächlich wahrgenommene Farbe reagiert. Als schwierig erwies es sich, eine vorgestellte Farbe gezielt zu verändern, also beispielsweise ein blasses Blaugrün etwas grüner und gesättigter zu machen. Was in Bildbearbeitungsprogrammen wie Photoshop so einfach ist, misslang meinem Gehirn. Vor dem inneren Auge sah ich zwar eine etwas modifizierte Farbe, aber gezielte, präzise Änderungen, wie man sie am Computer mit einem Regler erzielt, gelangen mir nicht. Den Kontrast zwischen zwei Farben konnte ich mir noch vorstellen, aber ab drei Farben streikte meine Imagination: Selbst ein simples Farbschema wie die Grundfarben Rot, Grün und Blau sah ich mit dem inneren Auge nur als schnelle Abfolge der drei Farben, jedoch nicht gemeinsam als Farbdreiklang.

So weit es mich betrifft, muss ich Harold Cohen zustimmen: Der Mensch ist nicht sehr begabt darin, sich Farben vorzustellen. Daher rührt wohl auch die Existenzberechtigung von Hilfsmitteln wie Adobe Color oder diversen Apps für iOS und Android, die uns dabei unterstützen, Farbschemata nach Sicht zusammenzustellen.

Tatsächlich sind unsere kümmerlichen Fähigkeiten, uns Farben vorzustellen, gar nicht so verwunderlich, denn wichtige Teile unseres visuellen Cortex ignorieren Farben ohnehin. Bei der Erkennung von Formen und Bewegungen kommt es nur auf die Helligkeit an, und auch die plastische Wirkung von Körperschatten ergibt sich unabhängig von den Farbtönen. Die Künstler des Expressionismus beispielsweise konnten Farben frei nutzen, weil ihre Motive erkennbar blieben und auch nicht an Plastizität verloren, wenn die Farbe nicht mehr die Natur wiedergab, sondern stattdessen Empfindungen und Gemütszustände ausdrückte.

Auch Harold Cohen erinnerte sich daran, dass er seinen Kunststudenten immer geraten hatte, mehr Augenmerk auf die Helligkeit als auf den Farbton zu legen – ein unstimmiger Tonwertverlauf irritiert, ein „falscher“ Farbton dagegen kaum. Er schaffte es schließlich, für AARON Regeln harmonischer Farbschemata zu entwickeln, und die Ergebnisse waren so gut, dass er die KI schließlich auch konsultierte, um Farben für seine eigenen Bilder zu finden.


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Michael J. Hußmann

Michael J. Hußmann gilt als führender Experte für die Technik von Kameras und Objektiven im deutschsprachigen Raum. Er hat Informatik und Linguistik studiert und für einige Jahre als Wissenschaftler im Bereich der Künstlichen Intelligenz gearbeitet.

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