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Letzte Blicke

Letzte Blicke
Letzte Blicke – die Kaskaden der Wasserspiele im Kasseler Bergpark Wilhelmshöhe / Foto: Doc Baumann

Versuchen Sie mal, sich einen Augenblick lang vorzustellen, mit Ihrem Leben ginge es demnächst zu Ende – kein schöner Gedanke, zugegeben. War da nicht noch etwas, das Sie sich schon lange gewünscht, aber nie umgesetzt haben? Vor ein paar Tagen wollte Doc Baumann Wasserstrukturen im Kasseler Bergpark Wilhelmshöhe fotografieren … und stieß dabei zufällig auf eine solche Wunscherfüllungsmaschine.

 

Zweimal in der Woche rauschen beeindruckende Wasserfluten über die Kaskaden unterhalb des Kasseler Herkules-Monuments, ergießen sich weiter bergab über einen künstlichen Wasserfall, dann über die abgebrochenen Bögen eines bereits als Ruine errichteten Aquädukts, um schließlich in einer über 50 Meter hohen Fontäne in die Luft geschleudert zu werden. Die hydromechanischen Anlagen hinter dieser Vorführung sind nach 300 Jahren noch immer dieselben wie jene, die Landgraf Carl zu Beginn des 18. Jahrhunderts errichten ließ.

Ich wartete zusammen mit etlichen tausend Touristen auf den Beginn der Wasserspiele. Irgendwann fiel mir am Rande des Platzes ein großer Krankenwagen auf; kurz danach eine von mehreren Sanitätern begleitete Fahrtrage, auf der ein alter Mann lag. Das Wetter war sonnig und heiß – da hatte wohl jemand nach steilem Aufstieg einen Hitzschlag erlitten. Dachte ich.

Eigentlich war ich zur Kasseler Wilhelmshöhe gefahren, um dort Wasserstrukturen für eine Bildmontage aufzunehmen. Da in der nordhessischen Stadt derzeit auch die documenta zu sehen ist, sind zahllose Besucher aus dem In- und Ausland unterwegs; zweimal in der Woche auch im Bergpark, der seit ein paar Jahren zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt. Wenn man schon in Kassel ist, muss man sich auch das Herkules-Monument und die berühmten Wasserspiele angeschaut haben.

Zehn Minuten später standen Krankenwagen und Trage noch immer zwischen den vielen Menschen in der prallen Sonne. Und kurz bevor das Wasser herabzurauschen begann, machten sie sich nicht etwa auf dem Weg ins nächste Krankenhaus, sondern die Sanitäter rollten die Trage und ihren Passagier an den Rand des barocken Beckens, als wollten sie ihm einen besonders guten Ausblick verschaffen.

Einen Augenblick lang ertappte ich mich bei dem Gedanken, ob hier vielleicht einem Todgeweihten ein letzter Wunsch erfüllt würde, letzte Blicke auf seinen geliebten Herkules? Was mir dann aber doch etwas zu utopisch erschien, um wahr zu sein.

 


Letzte Blicke – Wünschewagen


Als ich jedoch eine Weile später – das Wasser schäumte nun über die Kaskaden und alle machten sich auf den Weg zur nächsten Station, dem Wasserfall – den Pfad bergab nahm und an dem noch immer wartenden Krankenwagen vorbeikam, stellte ich fest, dass es sich um eine Sonderanfertigung handelt. Was sich schon daran ablesen ließ, dass er nicht mit Kranken-, sondern mit Wünschewagen beschriftet war, Unterzeile „Letzte Wünsche wagen“. Was nun ganz danach klang, als habe meine Vermutung doch nicht so sehr daneben gelegen wie gedacht.

Spätere Recherchen bestätigten, dass der ASB tatsächlich dieses Projekt spendenfinanziert ins Leben gerufen hat, um Todkranken einen letzten Wunsch zu erfüllen – ob das nun letzte Blicke auf eine geliebte Landschaft sind oder der Besuch eines Konzerts oder einer Sportveranstaltung. Immer verbunden mit der notwendigen medizinischen Versorgung und Betreuung während dieses Ausflugs.

Eine phantastische und unterstützungswürdige Idee! Mich erinnerte das Projekt sofort an eine Filmszene – eine Assoziation, welche die ASB-Verantwortlichen höchstwahrscheinlich nicht schätzen: In Richard Fleischers Film „Jahr 2022 … die überleben wollen“ aus dem Jahr 1973 ist begleiteter Selbstmord als medizinische Dienstleistung längst selbstverständlich. Die letzten Minuten verbringen die Lebensüberdrüssigen in einem großen Raum, auf dessen Innenkuppel Szenen ihrer Wahl projiziert werden (in dieser Filmszene etwa Wald und Natur), begleitet von klassischer Musik. Eine für mich sehr angenehme und friedliche Vorstellung des Endes.

ASB bedeutet übrigens, wie Sie sicherlich wissen, Arbeiter-Samariter-Bund – und nicht, wie ich mittelalterbegeistert in meiner Kindheit zu wissen glaubte, Arbeitsamer Ritterbund. Sicherlich gibt es letzte Wünsche, die die Organisatoren nicht erfüllen können. Etwa ein Nachmittag mit Stephen Hawking oder mit Stephen King, ein Abend mit Pamela Anderson oder ein paar Minuten, um einem gewissen US-Politiker noch mal gewaltig in den Hintern treten zu können – wobei zu befürchten ist, dass die Kräfte dazu nicht mehr reichen und man sich doch lieber etwas Beschauliches wünscht. Wie etwa letzte Blicke auf Herkules und Kaskaden.

 

Mit digitaler Bildbearbeitung und Photoshop hat das Ganze mal wieder nichts zu tun. Aber Sie wissen ja, bei aller Wertschätzung für unsere geliebten Pixel – es gibt Wichtigeres auf der Welt. Und dieses Projekt gehört sicherlich dazu.

Wenn Sie die Idee auch so beeindruckend und unterstützungswürdig finden wie ich: In den einzelnen Bundesländern werden immer Ehrenamtliche gesucht, welche die Kranken auf diesen Fahrten begleiten; mehr erfahren Sie hier. Und da ein solches Projekt nicht billig ist, freut man sich beim ASB natürlich auch immer über Spenden: In meinem Bundesland ist das zum Beispiel der ASB Landesverband Hessen e.V., Bank für Sozialwirtschaft, IBAN: DE55 5502 0500 0007 1330 55, BIC: FSWDE33MNZ

Wenn Sie der Gedanke an die Möglichkeit des eigenen Todes zu sehr bedrücken sollte – vielleicht haben Sie ja Verwandte oder Freunde, denen auf diese Weise ein letzter Wunsch erfüllt werden könnte.

Letzte Blicke
Der hessische Wünschewagen in den Alpen / Foto: ASB Hessen 2017
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Doc Baumann

Doc Baumann befasst sich vor allem mit Montagen (und ihrer Kritik) sowie mit der Entlarvung von Bildfälschungen, außerdem mit digitalen grafischen und malerischen Arbeitstechniken. Der in den Medien immer wieder als „Photoshop-Papst“ Titulierte widmet sich seit 1984 der digitalen Bildbearbeitung und schreibt seit 1988 darüber.

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