Das Foto als Fenster
Wenn wir eine Abbildung betrachten, sehen wir einerseits das Bild als Artefakt und andererseits die darin abgebildete Realität. Gerade Fotografien erscheinen uns oft als Fenster zu einer in Raum und Zeit möglicherweise weit entfernten Welt.
Auf diesen Aspekt wurde ich jüngst noch einmal durch die Lektüre von Catrin Misselhorns Essay Künstliche Intelligenz – das Ende der Kunst? aufmerksam. In Anlehnung an Kendall Walton (Transparent Pictures. On the Nature of Photographic Realism, 1984) spricht sie von der Transparenz der Fotografien: „Wir können durch sie hindurch einen Blick auf ihre Gegenstände werfen wie durch eine Glasscheibe. Anders als beim gemalten Bild steht kein Objekt zwischen uns und den Dingen.“ Wörtlich genommen ist das natürlich falsch, denn auch im Falle der fotografischen Abbildung gibt es eben diese Abbildung als Artefakt, sei es als gedrucktes Bild oder eines auf dem Bildschirm. Dennoch kennen wir vermutlich alle den beschriebenen Effekt: Das Foto scheint zu verschwinden und wir sehen uns unmittelbar mit seinem Gegenstand konfrontiert. Auch die Malerei kann manchmal etwas Ähnliches erreichen, und bei der Betrachtung mancher meiner Lieblingsbilder wie Leonardos Dame mit dem Hermelin, Lorenzo Lottos Porträt eines jungen Edelmanns oder Max Liebermanns Netzflickerinnen fühle ich mich den Porträtierten nahe. Dennoch bleibt mir stets gegenwärtig, dass ich die Vision eines Künstlers betrachte und keine konkreten Menschen (von diesen Beispielen ist nur die Dame mit dem Hermelin, Cecilia Gallerani, historisch fassbar, und nur von ihr wissen wir, was sie über ihr Porträt dachte).
Die Fotografie macht es uns leichter, sie als transparent aufzufassen, obwohl ja Fotografien ebenso wie Gemälden die dritte Dimension fehlt. Selbst Schwarzweißbilder stehen dem Transparenzeffekt nicht entgegen, was wohl mit unserer Sinnesphysiologie zu erklären ist: Einige Komponenten des visuellen Kortex werten ohnehin nur Helligkeitsinformationen aus, weshalb uns farblose Bilder nicht so fremdartig erscheinen, wie man vielleicht erwarten würde: Einen tatsächlich grauen Apfel würden wir sicher nicht mehr essen wollen, aber als graues Abbild in einem Schwarzweißfoto kann er dennoch zum Reinbeißen reizen.
Das Foto als Fenster lässt uns einen Blick auf weit entfernte Orte und in andere Zeiten werfen, wobei diese Zeiten naturgemäß stets in der Vergangenheit liegen. Roland Barthes (1915–1980) hat dieses Phänomen in seinem Essay La chambre claire. Note sur la photographie (1980; die deutsche Übersetzung Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie ist 1989 erschienen) noch potenziert: „Eines Tages, vor sehr langer Zeit, stieß ich auf eine Photographie des jüngsten Bruders von Napoleon, Jérôme (1852). Damals sagte ich mir, mit einem Erstaunen, das ich seitdem nicht mehr vermindern konnte: »Ich sehe die Augen, die den Kaiser gesehen haben.«“ Napoleon selbst war schon 1821 gestorben, zu früh, um noch fotografiert zu werden, aber über seinen Bruder Jérôme (1784–1860) war eine visuelle Kausalkette entstanden, die ein Jahrhundert überspannte: Jérôme hatte Napoleon gesehen, die Kamera eines Fotografen – Jahrzehnte später – Jérôme, und Roland Barthes schließlich dessen Porträt.
Je stärker eine Fotografie verfremdet ist, etwa durch die Anwendung von Filtern, geht ihre Transparenz verloren. Wir sehen dann zu allererst das Bild als solches und erst in zweiter Linie die abgebildete Realität. Unabhängig davon gibt es jedoch die Richtung des fotografischen Visualismus, die – ohne die Fotos durch Manipulation zu verfremden – das Augenmerk gerade nicht auf das Abgebildete lenken will, sondern auf die visuelle Welt selbst: „Der Impetus der dokumentarischen Fotografie gilt der visuellen Bestandsaufnahme der Welt; der Impetus der visualistischen Fotografie der Erforschung der visuellen Welt“ (Andreas Müller-Pohle: Visualismus, 1980). Der Visualismus hat ein „metarealistisches Wirklichkeitsinteresse, dem das menschliche Gesicht so wichtig sein mag wie der Schattenwurf eines Maschendrahtzauns“. Diese Art der Fotografie ist himmelweit von unserer visuellen Wahrnehmung entfernt, denn Müller-Pohle stellt ganz richtig fest: „Gewöhnlich sehen wir die visuelle Welt nicht – wir bewegen uns in ihr. Sie ist mehr Orientierungsrahmen für die Abwicklung täglicher Lebenserfordernisse als Gegenstand unserer Wahrnehmung. (…) Was wir – mehr automatisch als bewußt – zur Kenntnis nehmen, sind Dinge und Ereignisse als Träger von Bedeutungen ….“ Im Gegensatz zu unserer Wahrnehmung wie auch zur dokumentaristischen Fotografie will der Visualismus den „Formalismus der „gewöhnlichen Wahrnehmung“ … durchbrechen, um die visuelle Welt in ihr gemäßen Ordnungszusammenhängen sichtbar zu machen“. Die aus dieser Theorie entwickelte fotografische Praxis erscheint mir allerdings nur mäßig interessant: Hat man ein paar solcher Bilder gesehen – und in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts sah man sie oft –, hat man im Grunde alle gesehen. Ihre Inhalte sind ohnehin banal, weil es um diese Inhalte ja ausdrücklich nicht geht. Ein Erstaunen, wie es Roland Barthes beim Anblick des Porträts von Jérôme Bonaparte empfand, darf man sich davon nicht erwarten.
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Wenn man vom „Foto als Fenster“ spricht, sollte man nicht – zumal aus zweiter Hand – Kendall Walton bemühen, ohne John Szarkowskis „Mirrors and Windows“ zur Kenntnis genommen zu haben. Das war jene legendäre Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art, die 1978 mit einem neuen Blick auf die Fotografie für Furore sorgte und zu einer festen Größe in der fototheoretischen Debatte wurde. Szarkowski teilte dort die Fotografie in zwei Gruppen ein: in „Spiegel“, die die „subjektive Realität“ des Fotografierenden wiedergeben, und in „Fenster“, die den Blick auf eine „objektive Realität“ eröffnen.
Szarkowski verstand beide Kategorien als Pole eines fließenden Kontinuums – so wie sich auch der Visualismus, den Michael Hußmann dankenswerterweise ins Spiel bringt, in einem graduellen Verhältnis zu seinem Gegenüber, dem Dokumentarismus, versteht. Blicke in Spiegel oder durch Fenster interessieren ihn aber vor allem, wenn Spiegel auf ungewohnte Weise aufgehängt und neue Fenster in die Wände gebrochen werden – jene Wände, die unser Sehen einengen, behindern, betäuben. Insofern ist der Visualismus ein Programm, das auf ästhetische Erneuerung zielt, so wie die meisten großen Kunstströmungen des 20. Jahrhunderts.
Seine Hervorbringungen, die im Übrigen bis in die 1920er Jahre und zum Teil weit darüber hinaus zurückreichen (man denke an Nadars Ballonfotografien aus den 1850er/60er Jahren), sind mannigfach und aufregend, bis heute. Sie als „banal“ abzutun und zu meinen, mit ein paar Beispielen „alle gesehen“ zu haben, zeugt von einem bedenklich getrübten Blick – wer so wenig differenziert, wird auch mit dem Kubismus oder dem Konstruktivismus wenig anfangen können und sich schnell gelangweilt abwenden.
Wie heißt es so schön in Vladimir Nabokovs Novelle „Despair“: „Er hätte sich an die Warnungen des Malers Ardalion erinnern sollen, dass ‚der Künstler vor allem den Unterschied zwischen den Dingen wahrnimmt. Nur die Banausen achten auf die Ähnlichkeiten‘.“
Man muss kein Künstler sein, um nicht als Banause dazustehen.