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Der Mann im Tuch

Viele halten die Bildspuren auf dem Turiner Grabtuch für Abdrücke des gekreuzigten Jesus. Hans Weishäupl hat eine am Grabtuchbild orientierte Bildmontage realisiert.

In den vergangenen Wochen wurde wieder das Grabtuch von Turin ausgestellt; viele halten die Bildspuren darauf für Abdrücke des gekreuzigten Jesus. Hans Weishäupl hat mit seinem Projekt Son of God eine am Grabtuchbild orientierte Montage realisiert.
DOCMA: Herr Weishäupl ? nach Ihren Gesichtern des Bösen (siehe DOCMA 28, Seite 20) nun das Gesicht eines guten Menschen? Was war für Sie der Anlass, dieses Vorhaben zu realisieren?
WEISHÄUPL: Die Frage, wie Jesus in Wirklichkeit ausgesehen haben mag, beschäftigt die Menschheit wohl schon so lange, wie es den christlichen Glauben gibt. Die Ursprünge des Grabtuches liegen seit über 2000 Jahren im Dunkeln. Nach Ansicht einiger Fachleute soll das Leinen identisch mit dem sogenannten Abgar-Tuch sein, das im frühen Mittelalter in Edessa, dem heutigen Urfa (Türkei), verehrt wurde. Von dort soll es nach Konstantinopel gelangt sein, wo es 1204 verschwand. Erstmals erwähnt wird das heute in Turin aufbewahrte Grabtuch in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts in Frankreich. Ich hatte mehrere Bücher über das Turiner Grabtuch gelesen und mir einige Studien angeschaut, und ich war immer wieder von diesem Bild auf dem Tuch fasziniert. Das Grabtuch wurde bis ins Detail untersucht, doch man hatte nie wirklich ein Gesicht vor Augen. Das wollte ich mit meiner Arbeit ändern.
DOCMA: Die zeitliche Übereinstimmung zur Präsentation des Turiner Grabtuchs ist sicherlich kein Zufall, oder?
WEISHÄUPL: Es war natürlich geplant, zur Präsentation des Turiner Grabtuchs ein Kunst-Projekt zu machen. Wer weiß schon, ob wir die nächste Präsentation des Tuches noch erleben dürfen. Tausende Besucher strömen seit dem 10. April 2010 täglich in den Turiner Dom. Alle wollen das Turiner Grabtuch sehen. Bis zum 23. Mai wird das Turiner Grabtuch, erstmals seit zehn Jahren, wieder öffentlich ausgestellt. Allein in den ersten zwei Wochen haben rund 450 000 Besucher aus aller Welt das Grabtuch aufgesucht, und es werden mehr als zwei Millionen Besucher erwartet. Der berühmteste Gast war Papst Benedikt XVI, der mein Buch und den Son-of-God-Druck vor drei Wochen von seinem Bruder Dr. Georg Ratzinger bekommen hat.
DOCMA: Das Projekt trägt den Namen Son of God? Wen meinen Sie damit? Den von den Christen für Gottes Sohn gehaltenen Jesus, dessen Leichnam einst in diesem Tuch gelegen haben soll ? oder den von Ihnen neu erschaffenen, sozusagen rekombinierten Mann, letztlich also in eher gnostischem Verständnis jeden Menschen?
WEISHÄUPL: Ich meine damit die Person, die ich aus mehr als 190 Menschen erschaffen habe.


Das Bild rechts unten zeigt das Ausgangsstadium der Montage, das Bild links oben das Ergebnis von Weishäupls Rekonstruktionsversuch. Die kleinen Abbildungen sind Zwischenstufen.



DOCMA: Warum haben Sie die Spuren von Folter und Hinrichtung nicht auf das Bild eines Mannes mit hinreichender Ähnlichkeit zum Tuchbild übertragen? Haben Sie den passenden nicht gefunden oder ging es Ihnen gerade um diese Kombination?
WEISHÄUPL: Einen Doppelgänger von Jesus zu suchen und abzufotografieren, wäre für mich keine Herausforderung.
DOCMA: Wie wörtlich ist die Projektbeschreibung zu nehmen, Sie hätten Bestandteile von Männern ?aus jedem Land der Erde? als Ausgangsmaterial verwendet?
WEISHÄUPL: Nehmen Sie es wörtlich. Es war eine Menge Arbeit.
DOCMA: Haben Sie die Ausgangsfotos alle selbst aufgenommen? Welche Vorgaben haben Sie dabei vorausgesetzt, und wie haben Sie Ihre Modelle gefunden?
WEISHÄUPL: In Zusammenarbeit mit der Fotografin Janet Riedel fotografierten wir in London, Moskau, Amsterdam, Berlin, Hamburg, Barcelona ? circa 300 Menschen, aus denen ich dann über 190 ausgewählt und zu Son of God zusammengesetzt habe.
DOCMA: Welche besonderen technischen Anforderungen gab es bei der Montage der Einzelbilder?
WEISHÄUPL: Die einzelnen Körperteile von Europäern, Asiaten und Afrikanern zu einer Person mit einer Hautfarbe zusammenzufügen.
DOCMA: Wenn Sie Ihrem mit Arabella Martinez verfassten Buch den Satz von Kierkegaard voranstellen: ?Fürchte Dich vor dem, was den Glauben ertöten ? kann?, gehe ich davon aus, dass Sie überzeugter Christ sind, damit also sowohl von der historischen Existenz des im Neuen Testament beschriebenen Jesus ausgehen als auch daran glauben, er sei der Sohn Gottes.
WEISHÄUPL: Im Flugzeug gibt es während starker Turbulenzen auch viele, die an seine Existenz glauben.
DOCMA: Nun ja ? sofern sie zu den 33 Prozent der Weltbevölkerung gehören, die zufällig seit ihrer Geburt Christen sind. Im Buch-Vorwort schreibt Kerstin Sauerbrei, der italienische Fotograf Secondo Pio ? der das Tuch 1896 zum ersten Mal fotografierte und auf seinem Negativ das gut erkennbare, heute allgemein bekannte Bild zum ersten Mal erblickte ? habe mit seinem Foto ?den materiellen Beweis der Existenz Christi? geliefert. Teilen Sie diese Einschätzung ? und was ist damit gemeint?
WEISHÄUPL: Der Mensch glaubt, was er sieht. Und das im wörtlichen Sinn. Sehen ist für mich eine Art des Glaubens. Mit einem Bild von Jesus sendet man ein Stück mehr Glauben in die Welt. Der materielle Beweis ist für mich dabei nebensächlich. Es ist ja schließlich ein virtueller Jesus, der am Computer erzeugt wurde.
DOCMA: Wenn die exakte fotografische Rekonstruktion des Menschen, der das Tuchbild verursacht hat, so bedeutsam ist, warum haben Sie dann einige Abweichungen vorgenommen; ich denke dabei etwa an die Geißelspuren an den Beinen?
WEISHÄUPL: Die mehr als 100 Geißelspuren wurden nach den beschriebenen gerichtsmedizinischen Untersuchungsergebnissen rekonstruiert. Diese beschreiben neben den Verletzungen an den Schultern, dem Rücken und der Hüfte auch Verletzungen durch das sogenannte ?flagrum taxillatum? (kurze Peitsche, die aus mehreren festen Lederriemen mit zwei kleinen Eisenstückchen nahe den Enden jedes Riemens bestand) an den Oberschenkeln. Zwei erfahrene Gerichtsmediziner haben mich bei meiner Arbeit unterstützt und Fotomaterial von ähnlichen Verletzungen zur Verfügung gestellt.
DOCMA: Vielen Dank für das Gespräch.

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Doc Baumann

Doc Baumann befasst sich vor allem mit Montagen (und ihrer Kritik) sowie mit der Entlarvung von Bildfälschungen, außerdem mit digitalen grafischen und malerischen Arbeitstechniken. Der in den Medien immer wieder als „Photoshop-Papst“ Titulierte widmet sich seit 1984 der digitalen Bildbearbeitung und schreibt seit 1988 darüber.

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