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Was ist ein Normalobjektiv?

Was an einer Normalbrennweite normal ist, legen weder die Gesetze der Optik noch die Physio­logie unserer Augen fest; dahinter stecken vielmehr die Perspektive und unsere Sehgewohnheiten beim Betrachten von Bildern.

Objektive werden nach ihrer Brennweite in Tele- und Weitwinkelobjektive unterteilt; zwischen diesen stehen die Normalobjektive (siehe „Nifty Fifty“ in DOCMA 4/2012). Teleobjektive, so sagt man, vergrößern, während Weitwinkelobjektive verkleinern; allein die Normalobjektive bilden in natürlicher Größe ab. In wieweit kann man hier aber überhaupt von einer Vergrößerung oder Verkleinerung sprechen, ist das auf den Sensor projizierte Bild doch im Regelfall viel kleiner als das Motiv? Mit manchen Makro-Objektiven kann man sehr kleine Motive tatsächlich im Maßstab 1:1 und damit in Originalgröße abbilden, aber wir fotografieren ja nicht nur Käfer – die Mehrzahl unserer Motive müssen wir verkleinern, damit sie auf der Sensorfläche Platz finden, und das gilt für lange Brennweiten ebenso wie für die kurzen. Die Begriffe von Vergrößerung und Verkleinerung führen offenbar in die Irre.
Was also macht eine Brennweite zur Normalbrennweite? Es ist nicht etwa die Brennweite des menschlichen Auges, denn diese ist variabel und kann sich zwischen rund 14 und 17 mm ändern – bis dieser Bereich im Alter schrumpft und die kürzeren Brennweiten nicht mehr erreicht werden. Das Auge verändert seine Brennweite, um auf unterschiedliche Entfernungen scharfzustellen; sein Bildwinkel und damit die Vergrößerung bleibt dabei gleich. Die Normalbrennweite orientiert sich auch nicht am Gesichtsfeld des Auges: Wir sehen nur in einem Winkel von 1° wirklich scharf, was dem Bildwinkel eines Teleobjektivs mit 1500 mm Brennweite entspräche, können aber ohne den Kopf zu drehen fast 180° in der Horizontalen erfassen, wozu ein Fisheye nötig wäre.
Die Normalbrennweite ist vielmehr als Länge der Sensordiagonale definiert (beim Kleinbildformat beispielsweise 43,3 mm, üblicherweise aufgerundet auf 50 mm), womit unabhängig von der Sensorgröße stets ein Bildwinkel von 53° erfasst wird. Aber warum genau dieser Winkel? Der normale Betrachtungsabstand, aus dem man sich ein Bild anschaut und es gerade noch im Ganzen erfassen kann, ist gleich der Bilddiagonale, und der Winkel, den das Bild dann ausfüllt, beträgt wiederum 53°. Schaut man sich also ein mit einem Normalobjektiv aufgenommenes Bild aus einem normalen Betrachtungsabstand an, sieht man die Motive genau so – unter demselben Winkel und in genau der Größe – als würde man sie vom Aufnahmestandpunkt der Kamera aus betrachten.
Aufnahmen mit einem Teleobjektiv müssten wir uns aus einem größeren, Weitwinkelaufnahmen aus einem kürzeren Abstand anschauen, wenn wir die Motive so sehen wollten, wie wir sie vom Kamerastandpunkt aus gesehen hätten, aber tatsächlich schauen wir uns alle Bilder, ungeachtet der verwendeten Brennweite, aus dem gleichen Betrachtungsabstand an, der nur von der Größe des Bildes abhängt. Weitwinkelaufnahmen betrachten wir aus einem zu großen, Teleaufnahmen aber aus einem zu geringen Abstand, und deshalb scheinen uns Weitwinkelobjektive zu verkleinern, Teleobjektive hingegen zu vergrößern. Bei der Betrachtung aus dem jeweils „richtigen“, dem Kamerastandpunkt entsprechenden Abstand, würde dieser Effekt verschwinden.
Und was ist ein Teleobjektiv?
Wir haben hier den Begriff „Teleobjektiv“ im Sinne eines Objektivs mit langer Brennweite verwendet; so ist es heutzutage allgemein üblich. Von seiner Herkunft her ist mit diesem Begriff allerdings eine bestimmte Objektivkonstruktion gemeint, bei der die Baulänge von der Frontlinse bis zur Bildebene kürzer als die Brennweite ist. Viele Objektive mit langer Brennweite sind tatsächlich auch in diesem Sinne Teleobjektive, doch gibt es Ausnahmen. Wollte man völlig korrekt sein, so müsste man also umständlich von „Objektiven mit einer längeren Brennweite als der Normal­brennweite“ statt von Teleobjektiven sprechen
Diesen und weitere Artikel, Tipps, Tricks und Workshops finden Sie im DOCMA-Heft Nr 49 (6-2012). Mehr Infos zum Heft gibt es hier. Wer keine Lust hat zum Kiosk zu gehen, kann sich diese Ausgabe (und ältere) bequem bei uns im Webshop bestellen.

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Michael J. Hußmann

Michael J. Hußmann gilt als führender Experte für die Technik von Kameras und Objektiven im deutschsprachigen Raum. Er hat Informatik und Linguistik studiert und für einige Jahre als Wissenschaftler im Bereich der Künstlichen Intelligenz gearbeitet.

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