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Zurück in die Zukunft?

„Das haben wir schon immer so gemacht!“ Der Wunsch, auch angesichts besserer Alternativen beim Gewohnten zu bleiben, ist eine zutiefst menschliche Eigenschaft. Gibt man ihr ein hippes Gewand, dann präsentiert sie sich als Retro-Mode, der jeder folgen kann, der gleichzeitig gestrig und ganz weit vorne sein will.

Im Kamerabau bedeutet Retro-Look, dass die Kameras meist wieder ein Zeitenrad haben und die Blende über einen Ring am Objektiv gewählt wird. Viele Fotografen schwören Stein und Bein, dass damit der Gipfelpunkt der Ergonomie erreicht war, und es irritiert sie nicht, dass sich diese Lösung einst technischen Beschränkungen verdankte: Die Übertragung erfolgte rein mechanisch und funktionierte um so besser, je kürzer und direkter die Verbindung zwischen Bedienelement und der damit kontrollierten Komponente war. Daher musste der Blendenring nahe der Blende und das Verschlusszeitenrad nahe dem Verschlussmechanismus untergebracht werden. Tatsächlich ist die moderne (aber auch schon Jahrzehnte alte) Lösung, Belichtungszeit und Blende durch zwei Rändelräder an der Vorder- und Rückseite der Kamera zu steuern, die weit ergonomischere Lösung, denn die Lage der Rändelräder ist so gewählt, dass sie für den Daumen und den Mittelfinger gut erreichbar sind. Ihre Funktion ist dann frei konfigurierbar.

Bei der Contarex, 1958 angekündigt und ab 1960 verfügbar, hatte Zeiss Ikon erstmals den traditionellen Blendenring durch ein Rändelrad ersetzt. (Foto von ElHeineken)
Bei der Contarex, 1958 angekündigt und ab 1960 verfügbar, hatte Zeiss Ikon erstmals den traditionellen Blendenring durch ein Rändelrad ersetzt. (Foto von ElHeineken)

Wer das für neumodisches Teufelszeug hält, vergisst offenbar, dass dieses Konzept ebenfalls eine lange Tradition hat. Schon 1958 kündigte Zeiss Ikon die Contarex an, eine Spiegelreflexkamera, die ihrer Zeit weit voraus war – so weit, dass sich ihre Markteinführung bis 1960 verzögerte. Die Contarex war die erste Kamera, bei der man die Blende nicht länger über einen Blendenring am Objektiv, sondern mit einem Rändelrad an der Vorderseite des Kameragehäuses einstellte. Die mechanische Übertragung erforderte eine recht aufwendige Lösung, und so war die Contarex die komplexeste Kamera ihrer Zeit. Leider war sie auch entsprechend kostspielig und wurde kein kommerzieller Erfolg. Erst mit dem Einzug der Elektronik in den Kamerabau bekamen die Designer die Freiheit, Bedienelemente allein nach ergonomischen Kriterien zu gestalten; die nunmehr elektrische statt mechanische Verbindung war kein Kostenfaktor mehr.

Ähnliche Konflikte zwischen althergebrachten und – objektiv gesehen – besseren Lösungen gibt es auch im Softwarebereich. Vor Jahren hatten wir anlässlich eines Adobe-Presse-Events die Gelegenheit, mit Photoshop-Entwicklern zu plaudern, und damals fragte jemand, ob sich das mit jeder Version immer komplexer werdende Photoshop nicht verschlanken ließe, etwa indem man längst obsolete Werkzeuge und Menübefehle eliminierte. Das würde man liebend gern tun, antworteten die Entwickler; beispielsweise gäbe es für viele destruktive Verfahren längst nicht-destruktive Alternativen und es spräche alles dafür, nur noch diese zu unterstützen – wäre da nicht das Beharrungsvermögen der Anwender, die sich mit Händen und Füßen dagegen stemmten, eine einmal gewohnte Vorgehensweise aufzugeben.

Als Informatiker habe ich theoretisch wie praktisch einen ähnlichen Konflikt kennengelernt: Man ist es gewohnt, eine bestimmte, immer wiederkehrende Aufgabe rein manuell zu erledigen. Man weiß sehr wohl, dass man diese Aufgabe automatisieren könnte, womit sich viel Zeit sparen ließe – aber man tut es nicht, weil man sich mit dieser Automatisierung erst vertraut machen müsste, was seinerseits einen nennenswerten Aufwand erfordert. Erst wenn ein hinreichender Leidensdruck entsteht, nimmt man es auf sich, die Automatisierung anzugehen.

Und so ist es immer: Man wechselt nicht zu einer überlegenen Methode, weil sie erkennbar besser als die gewohnte Vorgehensweise ist; erst wenn uns das althergebrachte Verfahren unerträglich wird, lassen wir uns auf eine Neuerung ein.

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Michael J. Hußmann

Michael J. Hußmann gilt als führender Experte für die Technik von Kameras und Objektiven im deutschsprachigen Raum. Er hat Informatik und Linguistik studiert und für einige Jahre als Wissenschaftler im Bereich der Künstlichen Intelligenz gearbeitet.

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