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Wenn das Leben die Kunst imitiert

Als Joel Goodman am Silvesterabend loszog, Partygänger auf den Straßen von Manchester für die Evening News zu fotografieren, hätte er sich nicht träumen lassen, dass eines seiner Fotos mit den Bildern großer Künstler der Renaissance und des Barock verglichen werden würde.

Die Einwohner von Manchester verstehen es zu feiern, heißt es, und der Jahreswechsel war eine exzellente Gelegenheit dazu. Zu vorgerückter Stunde boten die Feierbiester vielfältige Fotomotive für Streetfotografen, von knutschenden Pärchen bis zu Opfern übermäßigen Alkoholkonsums, die sich aus allen Körperöffnungen entleerten. Solche Bilder suchte auch die Tageszeitung Manchester Evening News, um sie auf ihrer Website zu veröffentlichen. Diese Impressionen fallen von Jahr zu Jahr nicht allzu unterschiedlich aus, und wer auf dem Münchner Oktoberfest unterwegs ist, kennt ähnliche Szenen. Eines der Bilder, das der Fotograf Joel Goodman in der Nacht auf Neujahr aufnahm, war jedoch anders als die anderen und löste ganz unerwartete Reaktionen aus.

Straßenszene in Manchester (@ Joel Goodman)
Straßenszene in Manchester (@ Joel Goodman)

Auf Twitter machten Kommentare die Runde, die die Komposition des Bildes mit Michelangelos Bildern aus der Sixtinischen Kapelle oder mit Werken des Barock verglichen. Ein Kommentator fand in der Anordnung der Bildelemente die Größenverhältnisse des Goldenen Schnitts wieder:

Die Goldene Spirale in der Streetfotografie
Die Goldene Spirale in der Streetfotografie

Die Redaktion der Manchester Evening News wollte da nicht zurückstehen und lieferte ihre eigene Bildinterpretation:

Die einzelnen Elemente der Bildkomposition, interpretiert von der Manchester Evening News. Der im Mittelgrund liegende Mann war kurz zuvor bei einer Rangelei gestürzt und hatte gerade noch sein Desperados retten können.
Die einzelnen Elemente der Bildkomposition, interpretiert von der Manchester Evening News. Der im Mittelgrund liegende Mann war kurz zuvor bei einer Rangelei gestürzt und hatte gerade noch sein Desperados retten können.

Nur einer gab den Spielverderber: Kunstkritiker Jonathan Jones mäkelte schmallippig im Guardian, solche Vergleiche gehörten sich nicht. Der Aufwand, den die Künstler der Renaissance getrieben hätten, sei ja nicht dem Druck auf den Auslöser gleichzusetzen. Aber das war ja auch nicht das Thema.

Die Kunst von Renaissance und Barock zielt auf idealisierte Bilder. In diesen Gemälden blinzelt niemand, keiner der Dargestellten macht gerade ein dummes Gesicht oder verdeckt durch eine ungeschickte Bewegung das Gesicht eines anderen (was in einem Schnappschuss die Regel wäre). Jeder Aspekt von Mimik und Gestik ist so expressiv wie bedeutungsvoll, und alle Bewegungen sind perfekt aufeinander abgestimmt, so dass der Maler mit der Wiedergabe eines einzigen kurzen Zeitpunktes eine ganze Geschichte erzählen kann. So wie Caravaggio in seinem Bild der Emmaus-Jünger, das sie in dem Moment zeigt, in dem sie in ihrem unbekannten Reisegefährten Jesus erkennen:

Caravaggio: Abendmahl in Emmaus (1601)
Caravaggio: Abendmahl in Emmaus (1601)

Manchester_Ausschnitt1Selbst der scheinbar unbeteiligte Wirt hat hier noch eine Funktion: Sein Schatten an der Wand erzeugt einen negativen Heiligenschein, vor dem sich das Gesicht von Jesus noch effektvoller abhebt.

Ähnlich expressiv sind die Gesten in Joel Goodmans Foto, seien es die der Frau im roten Kleid, die auf die Polizisten einredet, oder auch die des auf der Straße liegenden Mannes, der nach seinem Desperados greift – wie durch ein Wunder wurde das Bier nicht verschüttet, als er bei der Rangelei zwischen Polizisten und Passanten stolperte. Die Gruppe von Jugendlichen im Hintergrund komplettiert die Tiefenstaffelung der Motive. Allein die beiden Personen ganz rechts und der Poller stören den Gesamteindruck. Aber natürlich ist es nur dem Zufall zu verdanken, dass sich die Beteiligten gerade in dem Augenblick zu dieser perfekten Komposition arrangierten, als der Fotograf auf den Auslöser drückte.

Manchester_Ausschnitt2

Ein Streetfotograf wird vermutlich Tausende von Fotos schießen müssen, um zufällig mit einem solchen Bild zurückzukommen. Anders sieht es bei der inszenierten Fotografie aus. Eine Gruppe von Models zu dirigieren ist anspruchsvoller als die Arbeit mit nur einem Model, aber versuchen Sie doch einmal, den Alten Meistern der Malerei nachzueifern. Jonathan Jones hat schon recht, wenn er auf die langen Jahre der Ausbildung verweist, die Maler wie Michelangelo und Caravaggio absolviert hatten, und wie viel Mühe sie in ihre Malerei investieren mussten. Aber wir können von den kompositorischen Lösungen profitieren, die sie einst gefunden hatten, und deren – auch zufällige – Anwendung bis heute ihre Wirkung nicht verfehlt. Mit unserer Artikelreihe zur Bildgestaltung werden wir Sie auch 2016 bei der Planung eines Bildes ebenso unterstützen, wie wir es bei der anschließenden Bildbearbeitung schon immer getan haben.

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Michael J. Hußmann

Michael J. Hußmann gilt als führender Experte für die Technik von Kameras und Objektiven im deutschsprachigen Raum. Er hat Informatik und Linguistik studiert und für einige Jahre als Wissenschaftler im Bereich der Künstlichen Intelligenz gearbeitet.

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