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Keine Kameras bitte!

Es ist ja schon ein Klischee, dass die Zukunft auch nicht mehr das ist, was sie mal war. Zumindest die in den 50ern, 60ern und 70ern prognostizierte Zukunft, die mittlerweile unsere Gegenwart sein sollte: Wo bleiben die Flugautos, Raketenrucksäcke und Haushaltsroboter, wo kann ich meinen Urlaub auf Mond oder Mars buchen? Aber ein klassisches Versatzstück der Zukunftsperspektiven von einst ist längst da, auch wenn es kaum jemand nutzt: das Videotelefon.

Das Videotelefon der Zukunft, mit Schnur und Wählscheibe
Das Videotelefon der Zukunft, mit Schnur und Wählscheibe

Im Gegensatz zu Flugautos und Haushaltsrobotern gab es funktionsfähige Videotelefone schon vor 80 Jahren. 1936 konnte man in speziellen Bildtelefonzellen zwischen Berlin, München und Nürnberg quer durch Deutschland kommunizieren – vorausgesetzt, der gewünschte Gesprächspartner befand sich gleichzeitig in der Bildtelefonzelle in der jeweils anderen Stadt. Nachdem sich das Deutsche Reich wenig später darauf konzentrierte, seine Nachbarländer zu überfallen, statt seinen Bürgern technische Gimmicks anzubieten, wurden die speziellen Telefonzellen wieder abgebaut. Nach dem Krieg wurde das Videotelefon in allen Industrienationen zum festen Bestandteil von Visionen der nahen Zukunft – ein Bildkanal zur Ergänzung der Sprachverbindung erschien naheliegend und technisch nicht allzu herausfordernd.

1968 kündigte Western Electric ein Videotelefon für eine nicht allzu weit entfernte Zukunft an; die Einführung scheiterte letztendlich an der unzureichenden Infrastruktur.
1968 kündigte Western Electric ein Videotelefon für eine nicht allzu weit entfernte Zukunft an; die Einführung scheiterte letztendlich an der unzureichenden Infrastruktur.

Tatsächlich standen die nötigen Technologien bald zur Verfügung; als Hindernis erwies sich die nötige Infrastruktur. Das Telefonnetz konnte die für eine analoge Videoverbindung nötige Bandbreite nicht bereitstellen, woran auch das in den USA von Western Electric bereits in der 60er Jahren entwickelte Bildtelefon scheiterte. In Deutschland startete die Telekom in den 90er Jahren einen neuen Versuch – jetzt digital mit ISDN-Technik, wobei man beide Kanäle eines ISDN-Anschlusses nutzen musste, um Video und Ton zu übertragen. Die Bildtelefone waren aber mit rund 1000 Mark zu teuer, was einer größeren Verbreitung im Wege stand; die geringe Zahl videotauglicher Telefone machte es zudem unattraktiv, sich selbst eines zu kaufen – kaum jemand kannte jemanden, der bereits ein Videotelefon besaß und mit dem er kommunizieren wollte. Das ISDN-Bildtelefon wurde zum Ladenhüter.

Längst hat sich aber herausgestellt, dass man für die Videotelefonie weder ein spezielles Videotelefon noch eine besondere Infrastruktur mehr braucht. Smartphones oder Computer mit integrierter Kamera sind geeignete Endgeräte, und das Internet kann als Übertragungsmedium dienen – der Rest ist Software. Anwendungen wie Skype machen Videotelefonie überall dort verfügbar, wo es einen Internetzugang mit ausreichender Bandbreite gibt. Vermutlich wurde schon so manche Fernbeziehung durch Skype oder FaceTime gerettet; wichtiger ist sicher noch, dass Frauen aus osteuropäischen Ländern, die nur im Ausland eine Beschäftigung finden, über eine solche Videoverbindung einen Kontakt zu ihren Kindern halten können. Im Alltag der meisten Menschen spielt die Videotelefonie aber nach wie vor eine geringe Rolle.

Sorry, keine Bilder bitte – vor der Kamera meines MacBook Air zeichnet ein Streifen Tesafilm alles weich.
Sorry, keine Bilder bitte – vor der Kamera meines MacBook Air zeichnet ein Streifen Tesafilm alles weich.

Die Beschränkung des klassischen Telefons auf eine Sprachverbindung macht die Telefonie zu einem sehr diskreten Medium. Wir müssen uns nicht zurechtmachen und wirken am Telefon dennoch respektabel. Eine Videoverbindung überträgt weit mehr Informationen, aber nur ein kleiner Teil davon erfüllt tatsächlich einen nützlichen Zweck.

Aber auch und gerade dann, wenn ich mein Gegenüber wirklich sehen möchte, finde ich die Videotelefonie irritierend. Der Grund ist simpel: Ich schaue dem Gesprächspartner wie in einer normalen Gesprächssituation in die Augen, aber das sind die Augen auf dem Display. Für die Gegenseite scheine ich den Blick nach unten zu richten, müsste also eigentlich in die Kamera schauen – aber dann sehe ich den Gesprächspartner nicht. Die offensichtliche, technische Lösung wäre ein Arrangement wie bei einem Teleprompter, der den Text vor dem Objektiv der Kamera einspiegelt, aber das funktioniert weder mit dem Computer noch mit einem Smartphone. Mir zumindest hat das die Videotelefonie ziemlich verleidet, und da mir nicht wohl dabei ist, ständig im Blickfeld einer Kamera zu sein, habe ich die Kameras meines MacBook Air und meines iMacs abgeklebt. Sicher ist sicher, denn es gibt ja mittlerweile Tricks, wie die eingebaute Kamera angezapft werden kann, ohne dass die LED daneben aufleuchtet.

Videotelefonie erschien lange Zeit als erstrebenswerte Errungenschaft, aber jetzt, da sie allgemein verfügbar ist, hat es eher den Anschein, als sei sie weit weniger attraktiv als einst gedacht. Übrigens gibt es ebenso berechtigte Zweifel, ob Flugautos oder Raketenrucksäcke wirklich praktikabel wären. Einen Flug zum Mond würde ich dennoch jederzeit buchen, sofern meine Liebste mitkommt und die Reise innerhalb unserer finanziellen Reichweite liegt.

Michael J. Hußmann
Michael J. Hußmann
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Michael J. Hußmann

Michael J. Hußmann gilt als führender Experte für die Technik von Kameras und Objektiven im deutschsprachigen Raum. Er hat Informatik und Linguistik studiert und für einige Jahre als Wissenschaftler im Bereich der Künstlichen Intelligenz gearbeitet.

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