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Fotografen und der Mut zur Kreativität

Als DOCMA-Leser werden Sie nichts Seltsames daran finden, Ihre Fotos zu bearbeiten oder gar mehrere Fotos zu einem allein Ihrer Fantasie entsprungenen Bild zu montieren. Viele Fotografen sehen es dennoch anders, aber warum eigentlich?

Wenn ich in Foto-Foren unterwegs bin, stoße ich oft auf skeptische bis abfällige Bemerkungen zu Photoshop und anderen Anwendungen zur Bildbearbeitung. Die Bearbeitung eines Fotos, und sei es nur zur Beseitigung von Mängeln der ursprünglichen Aufnahme, wird von manchen Fotografen geradezu als Mogelei angesehen. Kein Wunder, dass dieselben Fotografen auch mit Adobes recht preisgünstigem Foto-Abo von Lightroom und Photoshop fremdeln: Lightroom wird als Raw-Konverter und Workflow-App akzeptiert, nicht jedoch Photoshop, und wenn man nur eine der beiden Anwendungen nutzt, lohnt sich das Abo nicht.

Es gibt die unterschiedlichsten Arten von Fotografen, bei den Amateuren ebenso wie bei den Profis, aber viele von ihnen betrachten die Fotografie nur unter ihrem dokumentarischen Aspekt, was die Ablehnung jeder weitergehenden Bildbearbeitung erklärt. Oft wird sogar die Fiktion beschworen, die Fotografie sei ihrem Ursprung nach dokumentarisch und die Manipulation der Bilder eine moderne Verirrung. Doch das ist Unsinn, denn die Fotomontage und Retusche sind nur wenig jünger als die Fotografie selbst. Die Richtung des Pictorialismus, der auch auf Kosten des dokumentarischen Charakters der Fotos nach künstlerischen Wirkungen strebte, blühte bereits im 19. Jahrhundert.

Nirgendwo ist gesagt, dass die Fotografie nach einer objektiven Abbildung einer vorgegebenen Realität streben müsste. Stattdessen kann der Fotograf auch von einer Vorstellung ausgehen, einem Bild, das allein in seinem Kopf entstanden ist, und den fotografischen Prozess als Mittel zur Realisierung dieses Bildes nutzen. Natürlich gibt es Ausnahmen: Im Genre der Fotoreportage verbieten sich die meisten Manipulationen, was auch für die Naturfotografie im engeren Sinne gilt: Sie soll die Dinge zeigen, wie sie sind, nicht wie sie sein könnten. Aber für viele andere fotografische Genres gilt das nicht. Warum sollen wir als Fotografen nicht den Mut entwickeln, ein zunächst nur imaginiertes Bild für alle sichtbar zu machen?

Sandro Botticelli: Porträt der Simonetta Vespucci
Sandro Botticelli: Porträt der Simonetta Vespucci
Eine so aufwendige Frisur mit eingeflochtenen Perlen hatte Simonetta Vespucci sicher niemals getragen.
Eine so aufwendige Frisur mit eingeflochtenen Perlen hatte Simonetta Vespucci sicher niemals getragen.

Der Konflikt zwischen einer dokumentarischen und einer kreativen Wiedergabe der Realität ist nicht spezifisch für die Fotografie; bildende Künstler mussten sich schon vor Jahrhunderten mit ihm auseinandersetzen. Bei der Abbildung biblischer Szenen war Authentizität noch kein Thema, aber als sich in der Renaissance die Kunst des Porträts entwickelte, sah das schon anders aus. Das tatsächliche Aussehen des Porträtierten, wie es dem Maler erschien, war nicht wichtiger als die Wünsche des Auftraggebers und idealerweise auch die Intention des Künstlers.

Simonetta Vespucci (1453–1476) galt als schönste Frau von Florenz, und es mag sein, dass Sandro Botticellis Porträt ihrer legendären Schönheit gerecht wird. Die im Bild dargestellte Haartracht entspringt aber allein der Fantasie, denn keine Florentinerin ihrer Zeit hätte eine derart aufwendige Frisur mit in die Haare geflochtenen Perlen getragen. Sandro Botticelli hat ein Ideal abgebildet, keine reale Frau. Ich würde ihm keinen Vorwurf daraus machen. Seinem Auftraggeber dürfte das Bild gefallen haben, und Simonetta – falls das Bild vor ihrem allzu frühen Tod entstanden sein sollte – wohl ebenfalls.

Fotos von Bruchstücken der Realität …
Fotos von Bruchstücken der Realität …
… bereinigt und verbessert …
… bereinigt und verbessert …
… bis zur Umsetzung eines Bildes, wie es sich die Künstlerin Katerina Belkina vorgestellt hatte.
… bis zur Umsetzung eines Bildes, wie es sich die Künstlerin Katerina Belkina vorgestellt hatte.

In der aktuellen DOCMA 68 stelle ich die russische Künstlerin Katerina Belkina vor, deren Bilder denkbar weit von einer Dokumentation der Realität entfernt sind. Natürlich geht auch sie von realen Erfahrungen aus, dem Blick aus einem Hochhausfenster oder einer Bahnfahrt, aber daraus entsteht ein imaginiertes Bild, das so nur in ihrer Fantasie existiert.

Die Kamera nutzt Katerina Belkina als Werkzeug, das ihr die Grundelemente einer Montage liefert, aber diese Fotos sind noch weit vom späteren Ergebnis entfernt. Darin können auch gerenderte 3D-Modelle einfließen, wenn sich die dokumentierte Realität einmal nicht so geschmeidig in die gewünschte Form bringen lässt. Selbst die Perspektive muss sich der künstlerischen Intention beugen, denn nicht immer ist alles, was die Künstlerin zeigen will und vor ihrem inneren Auge sieht, auch tatsächlich von der gleichen Position aus sichtbar. Das fertige Bild lässt uns etwas sehen, das nirgendwo real existiert und – anders als es die Bilder aus dem Genre der Science Fiction versprechen – vermutlich nie so existieren wird. Dafür lässt es uns in die Vorstellungswelt einer Künstlerin blicken, und das mag weitaus spannender sein, als zu erfahren, wie es an irgendeinem Ort der Welt aussieht – eine Frage, die uns oft schon Google Street View befriedigend beantworten kann, wenn wir es denn so genau wissen wollen.

In diesem Sinne: Frohe Festtage, was immer Sie zu feiern haben!

Michael J. Hußmann
Michael J. Hußmann
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Michael J. Hußmann

Michael J. Hußmann gilt als führender Experte für die Technik von Kameras und Objektiven im deutschsprachigen Raum. Er hat Informatik und Linguistik studiert und für einige Jahre als Wissenschaftler im Bereich der Künstlichen Intelligenz gearbeitet.

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3 Kommentare

  1. Ich darf mal Bernhard Blume zitieren: „[ ] Dokumentarfotografie ist Betrug. ‚Objektive Fotografie‘ ist Selbstbetrug.“ Heißt nicht viel anderes als: die Realität stellt sich für jeden von uns (ob Fotograf oder Betrachter) unterschiedlich dar. Wir konstruieren sie – zwar basierend auf unserer Wahrnehmung – aber in großen Teilen eben aus Erwartungen, Erfahrungen und Erinnerungen. Ein Motiv von 10 Fotografen wird 10mal unterschiedlich dargestellt. Und von jedem Betrachter nochmals davon abweichend wahrgenommen.

    In der Reportagefotografie gelten journalistische Regeln, die bei der Bildreportage ebenso zu beachten sind, wie bei der schriftlichen oder filmischen. Das verbietet keine Nachbearbeitung an sich, sondern erfordert die Kenntlichmachung dessen, was man bearbeitet hat (im Prinzip: die Quellenlage nachweisen zu können, übrigens im digitalen Zeitalter, wo wir nur mit hohem Aufwand ein „Original“ identifizieren können, das größere Problem, als die Nachbearbeitung).

    Ansonsten ist Fotografie, ebenso, wie Literatur oder andere Künste ein Ausdrucksmittel. Ein Werkzeug um etwas zu vermitteln oder zu erzählen. Das kann eben sachorientiert oder auch fiktional sein.

    Der Einsatz des Mittels Fotografie darf und kann – entsprechend dessen, was und wie man erzählen will – gewählt werden. Mir ist zu diesem Thema noch kein Beitrag begegnet, der diese Grundtatsache in Frage stellen könnte.

    P.S.: zu Bernhard Blume: https://de.wikipedia.org/wiki/Anna_und_Bernhard_Blume

  2. Zur Dokumentar- oder dokumentierenden Fotografie als Selbst- Betrug ein paar kritische Anmerkungen: Es gibt viele Situationen, in denen es ohne Dokumentation per Bild nicht geht, Worte lassen sich auch unterschiedlich interpretieren und ein Bild mag ja von vielen Betrachtern anders gesehen werden, bleibt schließlich dennoch >ein< Bild. Als nur ein Beispiel zahn- und ärztliche Dokumentationen, mit fixierten Einstellungen, nachvollzieh- und wiederholbar, im Zeitalter der ersten schon digitalen Kopie endlich und glücklicherweise einfach zu vervielfältigen. Okay, ein einziges Original wie beim analogen Diapositiv oder dem Sofortbild gibt es nicht mehr, aber wer trauert denn dieser Arbeitsweise noch nach? Mit gezielten Vorabeinstellungen lassen sich weitgehend farbtreue Aufnahmen schon out of cam erstellen und das ist doch gut so.

    Anders sehe ich die (künstlerische?) Fotografie, in der fast alles erlaubt ist oder sein sollte. Warum darf das (von mjh gezeigte) Porträt nicht schöner sein als die Realität? Hier kommt es m.E. auf die Wirkung an, ein Kriterium, das Frauenaugen oft ganz anders als meine beurteilen. Liebe Fotofreunde, legt Eure Aufnahmen immer wieder Frauen zur Beurteilung vor und Ihr werdet Augen machen. Im medizinischen Journalismus sind Redakteurinnen in der Mehrheit, das hat pekuniäre Gründe, und für meine Berichte habe ich gerne Auswahlen an Aufnahmen durch ebendiese Frauen treffen lassen und fand auch das gut so! Beste Grüße vom Bodensee ppz

  3. Den Ausgangspunkt diese Beitrags kann man durchaus auch in die andere Richtung weiterdenken. Bildbearbeitung und Verrechnung können auch dazu benutz werden um ein objektiveres Bild zu liefern, als eine unbearbeitete Aufnahme. Ein Beispiel wären Interferometer, die genutzt werden um die Auflösung Astronomischer Aufnahmen zu erhöhen. Im sichtbaren Licht wird hier zwar erst noch mit optischen Methoden eine Art Verrechnung durchgeführt (bei Radioteleskopen passiert auch das schon digital), aber das Ergebnis wird von mehreren Sensoren erfasst, die dann erst im Rechner zu einem Bild werden.
    Ein anderes Beispiel wäre Focus-stacking, also das überlagern von Aufnahmen mit verschiedenen Schärfebereichen um ein Objekt durchgehend scharf dazustellen.
    Bildbearbeitung ist in diesen Fällen schlicht notwendig um die Limitationen von Kameras auszugleichen, die eben nicht die Realität abbilden, sondern ein durch ihre Optik und ihre Sensoren eingeschränktes Bild liefern.

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