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Als der Himmel noch nicht blau war

Konnten die Menschen der Antike kein Blau sehen? Das klingt ein wenig nach der Meldung des Postillon-Ablegers Faktillon: „Wissenschaftler der Universität Bern konnten anhand von authentischem Fotomaterial nachweisen, dass die Welt noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts komplett schwarz-weiß war.“ Aber die jüngst wieder popularisierte These einer Blau-Blindheit in der Antike wurde und wird tatsächlich vertreten.

Auf Facebook (wo sonst?) stieß ich jüngst auf ein Video von Tech Insider, in dem allen Ernstes behauptet wurde, die Menschen könnten erst seit relativ kurzer Zeit die Farbe Blau wahrnehmen. Erster Kronzeuge war Lazarus Geiger, ein deutscher Philosoph, dem auffiel, dass beispielsweise Homer in der „Odyssee“ kein einziges Mal das Wort „blau“ verwendet hatte. Auch in anderen Sprachen wie dem Hebräischen oder Ägyptischen tauchen Wörter für „blau“ erst spät auf, was Geiger auf den Gedanken brachte, die Menschen hätten erst spät die Fähigkeit entwickelt, die Farbe Blau überhaupt wahrzunehmen. Allerdings lebte Geiger (was im Video verschwiegen wird) im 19. Jahrhundert; damals hatte man zwar schon eine ungefähre Vorstellung davon, wie unsere Augen Farben erkennen, wusste aber noch nicht, dass der Aufbau von Netzhaut und visuellem Cortex schon recht alt ist und in prähistorischer Zeit nicht wesentlich anders als heute war. Die Menschen konnten schon immer Blau (und Violett) von Grün und Rot unterscheiden, weil die Netzhaut drei Typen von Rezeptoren enthält, die jeweils für diese Wellenlängenbereiche empfindlich sind.

Blaublindheit_Homer

Es stimmt, dass Homer in der „Odyssee“ kein Blau erwähnt; er verwendete allerdings generell wenig Farbwörter, wenn er die Umgebung seines Helden beschreibt. Heute sind wir es gewohnt, dass Farbwörter vor allem Wellenlängen beschreiben – Rot, Orange, Gelb, Grün, Cyan, Blau und Violett sind von dieser Art; allein Purpur hat keine Wellenlänge und ist nur als Mischung von Rot und Blau darstellbar. Es gibt zwar Farben wie Braun (ein dunkles Rot oder Orange), die Wellenlänge und Helligkeit kombinieren, wie auch gegenstandsgebundene Farbwörter wie „blond“, das nur auf Haar (und vielleicht noch Bier) anwendbar ist, aber die meisten Farbwörter beschreiben allein einen Farbton. Das war nicht immer so. Die altgriechischen Farbwörter geben oft eher eine Empfindung wieder als etwas, das wir heute als Farbe bezeichnen würden.

Geigers Beobachtung, dass „Blau“ erst spät Eingang in diverse Sprachen findet, ist korrekt. Allerdings gab es lange Zeit auch wenig Grund, sich mit diesem Farbton zu beschäftigen. Nur wenige Pflanzen und Tiere sind blau, und diese von anderen zu unterscheiden, war kaum überlebenswichtig. In einer Ko-Evolution sind die Farben der Pflanzen einerseits und das Farbsehvermögen von Insekten und Vögeln andererseits entstanden, und diese Farben im Spektrum von Grün, Gelb und Rot sind daher vor allem Farbcodes. Die Farben zeigen an, welche Blüten wann zu bestäuben und welche Früchte wann zu fressen sind; das zu wissen liegt im gemeinsamen Interesse von Pflanzen- und Tierwelt, was diese Evolution antrieb. Auf ähnliche Weise bildete sich auch die Farbkombination Gelb-Schwarz als Farbcode für „giftig“ heraus – Biene und Wespe einerseits und der Feuersalamander andererseits sind nicht verwandt, aber ihre Farbgebung signalisiert für jeden, den es angeht, dass sie sich mittels Gift zu schützen wissen. (Manche Arten wie die Schwebfliege reisten als Schwarzfahrer auf diesem Ticket, indem sie sich mit einem gelb-schwarzen Äußeren Respekt verschafften, obwohl sie gar nicht giftig waren.) Eine blaue Blume oder ein blauer Schmetterling mögen uns auffällig erscheinen, symbolisieren aber gar nichts.

Was aber ist mit dem blauen Himmel und dem blauen Meer? Wenn die Sonne scheint, ist der Himmel blau, aber das ist er unter diesen Umständen immer und das ist nichts Besonderes. Das Meer kann blau sein, aber auch auch grün, braun, grau, schwarz oder weiß, je nach Wassertiefe, dem Wellengang, den Schwebstoffen und natürlich der Farbe des Lichts, das von der Wasseroberfläche reflektiert wird. Das Ideal eines blauen Meers ist eine Erfindung der Tourismusindustrie, und es ist nicht wirklich verwunderlich, dass Odysseus, dem der Meeresgott Poseidon nach dem Leben trachtete, kaum vom blauen Meer zu erzählen wusste.

Für die Römer und wohl auch schon die Griechen war das dunkle Blau eine Trauerfarbe, die daher auch mit der Unterwelt assoziiert wurde. Ein helles Blau galt als barbarisch: Von Germanen und Kelten berichteten die Römer, sie würden sich mit Färber-Waid den Körper blau färben, bevor sie sich mit Gebrüll in die Schlacht stürzten; die Pikten, die im Gebiet des heutigen Schottland lebten, erhielten danach ihren Namen. Bretonische Frauen schminkten sich laut Plinius blau, um sich in Orgien zu stürzen, was einem Römer ebenso suspekt erscheinen musste – nicht die Orgien an sich, versteht sich, sondern selbstbewusste Frauen, die daran teilnahmen. Blaue Augen signalisierten dem Römer bei Frauen einen Mangel an Tugend und wirkten bei Männern lächerlich. Die Farbe Blau war wenig attraktiv, weshalb es auch kein originär lateinisches Wort für diese Farbe gab – „Blavus“ (daraus abgeleitet sind „blau“, „blue“ und „bleu“) kommt aus dem germanischen Sprachen und „azureaus“ (und daher „azure“, „azzurro“ etc.) aus dem Arabischen.

Die Wende kam erst im im späten Mittelalter, als die Jungfrau Maria gewissermaßen zur Schutzpatronin der Farbe Blau wurde. Zunächst wurde Maria blau gekleidet dargestellt, um ihre Trauer auszudrücken, aber damit wurde Blau zur charakteristischen Farbe der Jungfrau und in einem christlichen Kontext akzeptabel. Auch dann blieb es noch schwierig, diese Farbe herzustellen. Für das Ultramarin der Maler war Lapislazuli nötig, der nur in Afghanistan gefördert wurde. Textilien konnten dagegen mit Waid gefärbt werden, bis ihm Indigo als Farbstoff den Rang ablief. Mit dem Siegeszug der Anilinfarben im 19. Jahrhundert wurde dann ein breites Farbspektrum verfügbar, das Blau einschloss.

Heute sind uns mehr Blautöne denn je bekannt, und es kann entscheidend sein, hier feine Unterscheidungen zu treffen – etwas, das für unsere Vorfahren völlig unwichtig war. Das heißt aber nicht, dass wir dem prähistorischen Menschen oder dem der Antike ansonsten in irgendeiner Weise voraus wären. Wenn Sie sich näher für die Kulturgeschichte der Farben und insbesondere der Farbe Blau interessieren, empfehle ich „Blau – Die Geschichte einer Farbe“ von Michel Pastoureau und „Das Geheimnis der Farben. Eine Kulturgeschichte“ von Victoria Finlay.

Michael J. Hußmann
Michael J. Hußmann
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Michael J. Hußmann

Michael J. Hußmann gilt als führender Experte für die Technik von Kameras und Objektiven im deutschsprachigen Raum. Er hat Informatik und Linguistik studiert und für einige Jahre als Wissenschaftler im Bereich der Künstlichen Intelligenz gearbeitet.

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2 Kommentare

  1. Ist sehr interessant, der Artikel. Ich selbst beschäftige mich schon seit einiger Zeit mit Farbe. LAB, CMYK, Farbtheorie, Licht etc. Vor einiger Zeit habe ich mal von einer Paradoxie gelesen, dass sich Farben im Laufe der Jahrtausende ändern könnten. (Die Graun-Blün-Theorie)- auch sehr unterhaltsam…

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